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Verstädterung des Landlebens bei Lübeck seit 1870

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Es dauerte nicht viele Jahre, bis sich der Charakter des Dorfes von Grund auf geändert hatte. Aus dem Ackerdorf war, da die Stadt ihre Arbeitermassen nun an das Dorf abzugeben begann, ein mit der Stadt immer mehr verwachsener Vorort geworden. Früher ernährte das Dorf die Stadt, indem es Gemüse, Milch, Fleisch und Korn lieferte, jetzt mußte umgekehrt die Stadt das Dorf ernähren. Die Gemüsewagen fuhren nicht mehr vom Lande in die Stadt, sondern von den Märkten der Stadt holten die Gemüsehändler des Dorfes ihre Ware. Es wurde eine Pferdebahnlinie eingerichtet; nach zehn Jahren aber reichte sie nicht mehr aus; es wurden elektrische Leitungen gelegt, und die Straßenbahnwagen rollten in schneller Folge auf mehreren Linien hin und her. Sie fuhren an einer ununterbrochenen Reihe von Häusern vorbei, an Läden und Geschäften mit grellen Reklametafeln und an kleinen Villen; denn die Zahl derer, die ein eigenes Haus bewohnen konnten, mehrte sich jährlich. Wo sonst an der Stelle des alten Schlagbaums der Dorfkrug gewesen war, da standen jetzt mehrere Tanzsalons. Dort versammelte sich Sonntags die Arbeiterjugend und lärmte quer über die Straße von einem Tanzsaal zum andern. Der Fluß sah bald gar nicht mehr wie ein Fluß aus. Man sagte und schrieb, er müsse reguliert werden. Die Ufer wurden gerade gemacht und mit soliden Steinmauern befestigt, so daß man durch einen Kanal zu fahren meinte. Der alte Leinpfad wurde zu einer Villenstraße, und die Wiesen waren ganz zum Bauland geworden, da die Flußgrundstücke sehr begehrt waren. Die Ladeplätze wurden erweitert und angelegt, als sei in Zukunft ein Riesenverkehr zu bewältigen. Eine Landzunge, die den Fluß an der Brücke geteilt und der Landschaft etwas Reiches gegeben hatte, wurde beseitigt, so daß ein langweiliges Hafenbecken entstand. Um so wunderlicher wirkten einige der alten strohgedeckten Scheunen, die wie vergessen stehen geblieben waren. Aber es nistete kein Storch mehr auf dem First, die Unruhe war zu groß. Alles nahm in einer künstlichen Weise städtischen Charakter an. Die alte bäuerliche Volkstracht verschwand ganz. Und mit der Kleidung wurde auch die Sprache städtisch. Das norddeutsche Platt galt bald als eine gemeine Sprache, es wich einem schlecht beherrschten Hochdeutsch. Jeder wollte gebildeter scheinen, als er war. [ . . . ]



Quelle: Karl Scheffler, Der junge Tobias. Eine Jugend und ihre Umwelt (1927), neue durchgesehene und erweiterte Aufl. Wiesbaden, 1946, S. 29-33, 41-42.

Abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914. Dokumente und Skizzen. 3. Aufl. München: C.H. Beck, 1982, S. 50-53.

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