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Verstädterung des Landlebens bei Lübeck seit 1870

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begannen zu überlegen, ob sie ihren im Preis bedeutend gestiegenen Boden nicht besser ausnutzen könnten, ob sie ihr einstöckiges Bürgerhaus nicht niederreißen und an seine Stelle ein Mietshaus mit vielen Wohnungen und Stockwerken aufführen lassen sollten. Der Geist der Spekulation erwachte. Für jene Arbeiter- und Mietshäuser mußten neue Straßen angelegt werden. Sie konnten naturgemäß nur auf den Wiesen und Feldern angelegt werden, die den Bauern gehörten. Wie ja auch die Fabriken auf altem Weideboden entstanden. Der Boden mußte also den Bauern abgekauft werden. Und diese verstanden die heraufkommende Zeit, sie waren geschickt genug im Rechnen, um die Preise zu treiben. Da sie zudem in der Gemeinde Einfluß hatten, unterstützten sie eine Politik, die die Ansiedlung neuer städtischer Bevölkerungsteile förderte; sie taten, wo immer sie ihren Vorteil sahen, was in ihrer Kraft stand, um den ländlichen Grundbesitz in Bauplatz und Straßenland zu verwandeln. Ihr Weizen begann im großen dann zu blühen, als sie überhaupt keinen Weizen mehr zu bauen brauchten, als nämlich die Regierung den Plan faßte und durchführte, in der Umgebung des Dorfes ein Zentralkrankenhaus zu errichten, einen weitläufigen Komplex von Gebäuden und Baracken, von Straßen, Beamtenwohnungen, Gärten und Parkanlagen, und als die Regierung den Bauern zu diesem Zweck viele Äcker und Felder abkaufte. Verhältnismäßig wohlhabend waren die Bauern schon vorher gewesen, jetzt wurden sie reich und wußten mit dem Reichtum nichts Rechtes zu beginnen. Sie verloren zuerst ihre Tätigkeit. In den Pferdeställen standen nur noch ein paar Kutschpferde; die Kühe wurden verkauft, weil es keine Weiden mehr gab; die Kornböden blieben leer, weil nichts mehr zu ernten war. Die Höfe lagen tot da, die Knechte waren bis auf wenige entlassen, die Hofarbeiter hatten sich anderswo, bei der Gemeinde oder in den Fabriken, Beschäftigung suchen müssen, und die Bauern gingen auf ihren weitläufigen Besitzungen umher, ohne mit sich selbst etwas anfangen zu können. Wie aber aus dem Müßiggang die Willkür entspringt, so kam es den reich gewordenen Bauern nun in den Sinn, sie könnten und müßten die vornehmen Herren spielen. Sie fingen an, sich ihres bäuerlichen Wesens zu schämen. Es begann damit, daß sie sich neben ihr großes strohgedecktes Bauernhaus ein steinernes Wohnhaus bauten. Das war nicht mehr ein ländliches Haus, sondern es war eine Villa, von einem städtischen Architekten, der frisch aus dem Polytechnikum kam, nach der letzten Architekturmode entworfen. Zuweilen aber wurde dieses neue Haus auch an die Stelle der Wohnräume im alten Bauernhaus gesetzt. Die Diele mit den Ställen blieb dann stehen, das Strohdach aber wurde als Schieferdach fortgesetzt; und darunter entfaltete sich nach Kräften der Wohnkomfort der Neuzeit. Am beliebtesten freilich war die freistehende Villa mit Palastfenstern, Freitreppe, Loggia, Säulen, Ornamenten, Schieferdach und Turm. Ringsherum legte der Landschaftsgärtner einen Ziergarten an mit geschlängelten Kieswegen, Tulpenbeeten und viel Gebüsch. Der alte Bauerngarten wich der neumodischen Anlage. Blieb dann noch ein Stück Gartenland übrig, so wurde es parzelliert und als Bauplatz für Mietswohnungen verkauft. Woraus sich ergab, daß neben der Villa des reich gewordenen Bauern geteerte Brandgiebel steil in die Höhe gingen, und daß die alten Strohdächer in der neuen Umgebung ganz unwahrscheinlich anmuteten. [ . . . ]

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