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Victor Böhmerts Kritik am traditionellen, restriktiven Zunftwesen (1858)

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des Handwerkerstandes eine stehende Klage in allen Büchern und Zeitungen, in allen Kammern und öffentlichen Besprechungen? In demselben Maße, in welchem der Arbeiterstand seinen Lohn erhöht und seine Lage verbessert hat, ist der kleine Handwerkerstand von Jahr zu Jahr mehr herabgekommen. Wie kann es aber auch anders sein? Der Handwerker wird durch den unseligen Gewerbezwang ja selbst in ein ganz enges Arbeitsgebiet und in einen beschränkten Wirkungskreis hineingebannt. Veraltete Gesetze zwingen ihn, die besten Jahre des Lernens und jugendlichen Strebens mit dem ewigen geisttödtenden Einerlei derselben Arbeiten zu vergeuden, oder sich mit Gassenkehren, Stubenreinigen, Kinderwarten, mit Handlangerarbeiten u. s. w. abzuquälen, anstatt freie Lehrverträge zu gestatten, bei denen die Länge der Lehrzeit ganz nach den Eigenthümlichkeiten des zu erlernenden Gewerbes und nach den individuellen Fähigkeiten des Lehrlings bemessen wird. Wenn die Handwerker dann mit Mühe und mit Verlust ihrer kleinen ersparten Habe Meister geworden sind, so nützt ihnen das Erlernte vielleicht gar nichts; gerade das Gewerbe, in welches sie sich festgefahren haben, ist überfüllt oder Maschinen haben die Handarbeit verdrängt; andere Bedürfnisse, andere Verhältnisse haben den betreffenden Geschäftszweig zu einem nicht mehr lohnenden gemacht — aber siehe da, der Gewerbezwang hindert den Uebergang zu einträglicheren Beschäftigungen! So kommt es denn nun, daß Tausende von deutschen Handwerkern in einer Dachkammer mit all ihrer geträumten Selbstständigkeit als Meister oft ein weit schlimmeres Loos haben, als die Arbeiter, die in einem geschlossenen Etablissement um festen Lohn oder um Stücklohn arbeiten. Das Verhältniß hat sich geändert, jene heruntergekommenen Handwerker sind die Proletarier geworden, sie müssen sich mit ihrer Arbeit oft um schlechteren als Gesellenlohn an ihre Mitmeister verdingen, sich von ihnen ein Stück Arbeit erbitten oder sehnsüchtig Stunde für Stunde auf Kunden lauern, die ihnen das Fabrikwesen, die Eisenbahnen, die Handelsfreiheit u. s. w. entzogen haben. — Fürwahr dieser Zustand ist auf die Dauer unerträglich, aber er ist unvermeidlich; denn der Gewerbezwang muß ein Proletariat unter den Handwerkern selbst schaffen und nur die Gewerbefreiheit kann aus Proletariern arbeitsame und zufriedene Bürger machen!

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IV. Was leistet die Gewerbefreiheit in sittlicher Hinsicht?

Es giebt kaum Namen genug für all das Unheil, welches die Gewerbefreiheit in die Welt gebracht haben soll, und so nennt man denn auch „die Entsittlichung“ als eine der schwarzen Seiten dieses heiligen Menschenrechts der Arbeitsfreiheit. Die Motive des bremischen Gewerbegesetz-Entwurfs vom Jahre 1850 behaupten in dieser Hinsicht Folgendes: „Die Vortheile des Innungswesens bestehen darin, daß in sittlicher Hinsicht nichts mehr der Demoralisirung entgegen wirkt, als der Geist, welcher sich von selbst in einer eng verbundenen Classe werkthätiger und in ihrem Erwerb gesicherter Menschen herausbildet [ . . . ] Herrscht dagegen Gewerbefreiheit, so ist Jeder sich selbst überlassen, die moralische Haltung, welche der Corporationsgeist gewährt, fehlt u. s. w.“

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