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Ernst Dronke: Auszüge aus Berlin (1846)

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Es ist, es ist, es ist [ . . . ] Ja, es ist vieles, es ist die große Stadt. Darin besteht das ganze Geheimnis des großen Reizes, welchen das Leben in dieser Stadt für jeden und jede Richtung hat. Das Leben einer großen Stadt ist immer anregend, schon deshalb, weil es vielseitig ist, und ich habe oft von Männern von Geist wiederholen hören, daß sie in keiner andern Stadt zu leben vermöchten. Es kann jeder leben, wie er will, weil eben alles zu finden ist, was man nur suchen kann; ja man kann sogar alles zu gleicher Zeit haben. In der großen Stadt bekümmert sich niemand um den andern; es wissen die Leute oft in derselben Etage nicht, wer ihr Nachbar ist, und es kann jene Anekdote leicht wahr sein, wonach ein Mietsmann die Frage eines fremden Besuchers dahin beantwortete: einen Herrn namens Fischer kenne er nicht, neben ihm aber wohne seit zehn Jahren ein Mann, der vielleicht so heißen möge. Will daher jemand zurückgezogen leben, so findet er hier den geeignetsten Platz für seine Einsamkeit; will er dann die Vergnügungen des großstädtischen Lebens genießen, so braucht er seine Höhle nur zu verlassen. Da er aber in jeder Weise dabei sein Inkognito fortsetzen kann, so gibt es oft genug Leute, die beides verbinden. Der Pietist kann unbekümmert die Weltfreuden aufsuchen, ohne daß er Gefahr läuft, bei seinen Geistesverwandten in üblen Ruf zu kommen; der junge Mann, der mit glänzenden Empfehlungen aus der Provinz kommt, kann die Gesellschaften der höheren Kreise besuchen und Gegenbesuche empfangen, ohne daß jemand bemerkt, daß er mit einer Grisette zusammenwohnt. Dies Verschwinden der sogenannten Rücksichten gibt, wie gesagt, dem Aufenthalt in Berlin den Reiz und größeren Vorzug vor der Provinz, ist aber dagegen auch die Hauptursache des Verfalls des häuslichen Lebens. Der Mann hat nicht zu befürchten, ein verborgenes Verhältnis an seine Gattin verraten zu sehen; die Frau weiß, daß ihr Gemahl ihr nicht folgen kann, wenn sie unter irgendeinem Vorwand das Haus verläßt. Die kleinbürgerlichen Rücksichten verschwinden, das Leben reizt mit allen Verlockungen zum Genuß, und so treten dann alle, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, Reiche und Arme, Fromme und Weltliche, in der Stille aus ihren Verhältnissen heraus. Die Sicherheit, mit welcher dies allenthalben geschieht, hat etwas Unheimliches, fast Grauenhaftes. Sie löst die Bande ruhig und geräuschlos, ohne daß man von außen sie doch gelöst sehen könnte. Es ist ein Dualismus in diesem Leben, der natürlich die allgemeine Demoralisation nach sich ziehen mußte. Dies Verstecken der Neigungen vor den Verhältnissen der Familie und des Standes macht das ganze Leben äußerlich, öffentlich. Die höheren Kreise gehen ihren verborgenen Vergnügungen ebensowohl nach wie die mittleren, die älteren Leute wie die jüngeren. Der Student führt seine Grisette ruhig am Arm über das Trottoir; die Vornehmen halten ihre Orgien bei den ersten Restaurants; der alte Herr macht in der Stille eine Landpartie, während der Bürgersohn die öffentlichen Gärten und Konzerte besucht.

Auf den Straßen kann man daher die Richtung und die Lebensweise der Einwohner noch am besten kennenlernen. Da ein häusliches Leben selten mehr zu finden ist, und alles nur nach Vergnügungen jagt, so findet man den Ausdruck des Lebens nicht mehr am häuslichen Herde, sondern außer dem Hause, in dem wilden, wirren Durcheinandertreiben der Öffentlichkeit, und die Äußerlichkeit ist hier wieder die beste Charakteristik. Es ist für den ruhigen Beobachter belehrend, über die Trottoirs zu schlendern und Physiognomien zu studieren.

Die Berliner Gassenjugend zum Beispiel ist die keckeste und ungezogenste in ganz Deutschland, und unter ihr nehmen die Jungen der Schornsteinfeger den ersten Platz ein. Die barbarische Sitte der neueren Zeit, schmale und enge Schornsteine zu bauen, in die man nur Kinder hineinschicken kann, hat diesem Gewerbe einen großen Zuschuß von armen Kleinen verschafft, welche ohnedies keine Erziehung genossen und in diesem Beruf vollends ausarten. Man sieht ganze Trupps dieser kleinen schwarzen Brut durch die Straßen ziehen, gewöhnlich von einem einzigen Gesellen geführt, der als Unterscheidung oder Auszeichnung seinem Rang gemäß einen Hut trägt. Die Vorübergehenden, namentlich Frauen, weichen ihnen aus, denn die Ausgelassenheit dieser kleinen Bengel überschreitet alle Begriffe. Bei all ihren Ungezogenheiten leuchtet jedoch unverkennbar eine Art genialen Humors hindurch, und es ließen sich Bände damit füllen, wollte man die wirklich oft treffenden und derben Witze aufzeichnen, mit denen sie ohne Unterschied der Person alle Vorübergehenden überschütten. Die Fischweiber, denen man ebenfalls den Witz usurpieren möchte, besitzen bloß eine Derbheit, die sich oft in die gediegenste Grobheit und Gemeinheit verliert, und ich rate es keinem, sich um einen Witz an diese Weiber zu wenden.

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