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Wilhelm Heinrich Riehl: Auszug aus Land und Leute (1851)

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Es ist diese Zone der reinen Bauernlandschaften aber keineswegs klein in Deutschland. Sie erstreckt sich über einen großen Teil von Tirol, Ober- und Unterösterreich, Steiermark, Kärnten, das bayerische Hochland, über die höheren, minder kulturfähigen Gegenden fast aller deutschen Mittelgebirge, über die Marschländer an den Nord- und Ostseeküsten. In allen diesen Strichen erscheint das Volk in seinem reinsten, aber auch rohesten Naturwuchs; sie stechen gegen das übrige Deutschland ab wie Waldland gegen Feldland, wie unwegsames gegen verkehrsreiches; sie sind arm an historischen Denkmalen, das Volk selbst mit seinen Höfen, Dörfern und Gemeinden ist dort das einzige Denkmal dieser Art. Die Kunstgeschichte zog zu allen Zeiten, wie die Geschichte des Handels und der Industrie, den Flüssen und Ebenen nach, sie steigt nicht gern in das Innere der Gebirge. Das kunstreichste Gewerbe selber wird in jenen Gebirgsgegenden zu einer Bauernarbeit, wie auf dem Schwarzwald, im Erzgebirge, in den bayerischen Alpen, in Tirol. Denn die dortigen Uhrenmacher, Spitzenklöppler, Geigenmacher und Holzschnitzer sind im ganzen sozial vollgültige Bauern, und wenn ihre Hand auch niemals einen Pflug berührte.

Steigen wir tiefer hinab in das Hügel- und Hochflächenland des Südens und in die großen offenen norddeutschen Ebenen, so finden wir hier große, echte Dörfer neben ansehnlichen, zum Teil großen Städten von gleich bestimmtem städtischem Gepräge und zugleich die reichsten geschlossenen Rittergüter, den bedeutsamsten, am besten erhaltenen Überrest der Sitze des alten Landadels. Hier liegt Stadt und Land aufs bestimmteste gesondert nebeneinander. Diese Ländermassen bilden das Hauptgebiet der größeren deutschen Staaten, namentlich Österreichs, Preußens und Bayerns. Hier liegt eine große Zahl der wichtigsten alten Reichs- und Hansastädte, in denen das eigentümlichste Bürgerleben samt zahlreichen Trümmern, wenn auch nicht mehr uralten Sonderrechtes, so doch daraus erblühten Herkommens heute noch fortbesteht. Hier sind aber zugleich auch die großen Kornkammern Deutschlands, und in den großen und reichen Dörfern dieser weiten Fruchtländer hat sich die spätere Dorfgemeindeverfassung und Sitte und Lebensart des echten deutschen Dorfbauern am gründlichsten durchgebildet. Der gesellschaftlich originellste unter diesen Landstrichen, Westfalen, zeigt uns, wie die verschiedensten Formen der Siedelung in Bauernhöfen, Herrengütern, Dörfern und Städten nebeneinander bestehen und doch der Gegensatz von Stadt und Land aufs strengste gewahrt bleiben kann. Im Norden der Lippe sitzen hier noch die Hofbauern, im Süden die Dorfbauern; neben den Gemeinden der ehemals freien, echt aristokratischen Hofbauern gibt es Gemeinden, die ihr Verhältnis zu dem adligen Gutsherrn noch immer aus alter Gewohnheit und Anhänglichkeit aufrecht erhalten, wenn sie auch das Gesetz nicht mehr dazu zwingt; neben ehemaligen Reichsstädten liegen ehemals reichsfürstliche und moderne Fabrikstädte; bei allen hat sich der individuelle Charakter lebendig erhalten, aber der große Gegensatz zwischen Stadt und Land ist darum nirgends verwischt.

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