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David Friedrich Strauss: Schlußbetrachtung, Das Leben Jesu (um 1835)

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100.
Nein, die Seligkeit des Menschen, oder verständiger gesprochen, die Möglichkeit, daß er seine Bestimmung erfülle, die ihm eingepflanzten Kräfte entwickle, und damit auch des entsprechenden Maßes von Wohlsein theilhaftig werde, sie kann — darin behält der alte Reimarus ewig Recht — unmöglich an der Anerkenntniß von Thatsachen hängen, über welche unter Tausenden kaum Einer eine gründliche Untersuchung anzustellen, und schließlich auch dieser zu keinem sichern Ergebniß zu kommen im Stande ist. Sondern, so gewiß die menschliche Bestimmung eine allgemeine und jedem erreichbare ist, müssen auch die Bedingungen, sie zu erreichen, d. h. außer und vor dem Willen, der sich nach dem Ziel in Bewegung setzt, die Erkenntniß dieses Zieles selbst, jedem Menschen gegeben, sie darf nicht eine zufällige, von außen kommende Geschichtskenntniß, sondern muß eine nothwendige Vernunfterkenntniß sein, die jeder in sich selber finden kann. Das will jener tiefsinnige Ausspruch von Spinoza sagen, zur Seligkeit sei es nicht in allewege nöthig, Christum nach dem Fleisch zu kennen; aber mit jenem ewigen Sohn Gottes, nämlich der göttlichen Weisheit, die in allen Dingen, besonders im menschlichen Gemüthe zur Erscheinung komme, und in ausgezeichneter Weise in Jesus Christus zur Erscheinung gekommen sei, verhalte es sich anders: ohne diese könne allerdings Niemand zur Seligkeit gelangen, weil sie allein lehre, was wahr und falsch, gut und böse sei. Wie Spinoza, so unterschied auch Kant von der geschichtlichen Person Jesu das in der menschlichen Vernunft liegende Ideal der gottwohlgefälligen Menschheit, oder der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit, wie sie in einem von Bedürfnissen und Neigungen abhängigen Weltwesen möglich ist. Zu diesem Ideale sich zu erheben, sei allgemeine Menschenpflicht; allein, obwohl wir uns dasselbe nicht anders vorstellen können, als unter dem Bilde eines vollkommenen Menschen, und obwohl, daß ein solcher Mensch einmal gelebt habe, nicht unmöglich sei, da wir ja alle jenem Ideale gleichen sollten, so komme es doch nicht darauf an, daß wir von der Existenz eines solchen Menschen wissen oder daran glauben, sondern lediglich darauf, daß wir jenes Ideal uns vorhalten, es als für uns verpflichtend anerkennen, und uns ihm ähnlich zu machen streben.

Diese Unterscheidung des historischen Christus von dem idealen, d. h. dem in der menschlichen Vernunft liegenden Urbilde des Menschen, wie er sein soll, und die Uebertragung des seligmachenden Glaubens von dem ersteren auf das letztere, ist das unabweisliche Ergebniß der neueren Geistesentwicklung; es ist die Fortbildung der Christusreligion zur Humanitätsreligion, worauf alle edleren Bestrebungen dieser Zeit gerichtet sind. Daß man darin so vielfach einen Abfall vom Christenthum, eine Verläugnung Christi sieht, beruht auf einem Mißverstand, an welchem die Ausdrucksweise, vielleicht auch die Denkart der Philosophen, die jene Unterscheidung gemacht haben, nicht ohne Schuld ist. Sie sprechen nämlich so, als wäre das Urbild menschlicher Vollkommenheit, nach dem sich der Einzelne zu richten hat, in der Vernunft ein für allemal gegeben; wodurch es den Schein gewinnt, als könnte dieses Urbild, d. h. der ideale Christus, in uns ganz ebenso wie jetzt vorhanden sein, wenn auch niemals ein historischer Christus gelebt und gewirkt hätte. So steht es aber in der Wirklichkeit keineswegs. Die Idee menschlicher Vollkommenheit ist, wie andere Ideen, dem menschlichen Geiste zunächst nur als Anlage mitgegeben, die durch Erfahrung allmählig ihre Ausbildung erhält. Sie zeigt bei verschiedenen Völkern, nach

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