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David Friedrich Strauss: Schlußbetrachtung, Das Leben Jesu (um 1835)

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Xenophon und Plato – wem fällt dabei nicht Matthäus und Johannes ein, aber wie ungünstig für die beiden letzteren fällt die Vergleichung aus. Für's Erste waren die Verfasser der sokratischen Denkwürdigkeiten, der beiden Gastmahle, des Phädon u. s. f. wirkliche Schüler des Sokrates; die Verfasser des ersten und vierten Evangeliums hingegen keine unmittelbaren Schüler von Jesus. Ueber die genannten Schriften der beiden Attiker dürften uns gar keine äußeren Zeugnisse aufbehalten sein, wir würden sie doch an jedem Zug als Werke von Zeitgenossen und persönlichen Bekannten des Sokrates erkennen; bei den beiden Evangelien möchten die Zeugnisse für ihre apostolische Abfassung noch so alt und einstimmig sein, wir würden ihnen doch keinen Glauben schenken, weil der Augenschein widerspricht. Für's Andere geht das Bestreben der beiden Schriftsteller über Sokrates durchaus dahin, uns seine Eigenthümlichkeit und seinen Werth als Mensch, als Staatsbürger, als Denker und Jugendbildner, anschaulich zu machen. Das thun nun zwar unsere beiden Evangelisten in ihrer Art auch. Aber es ist ihnen nicht genug. Ihr Jesus soll ja mehr als Mensch, er soll ein gottgezeugter Wundermann, ja nach dem einen von ihnen gar das eingefleischte göttliche Schöpferwort gewesen sein. Daher geht in ihrer Darstellung nicht blos neben der Lehrthätigkeit Jesu eine Reihe von Wunderthaten und Wunderschicksalen her, sondern in die Lehre selbst, die sie ihm in den Mund legen, mischt sich dieses Wunderelement ein, so daß sie Jesum Dinge von sich aussagen lassen, die ein Mensch von gesunden Sinnen unmöglich von sich ausgesagt haben kann. Für's Dritte stimmen Plato und Xenophon in allem Wesentlichen, was sie von Sokrates erzählen, überein. Manches berichten sie gleichlautend; einzelne Züge, die dem einen eigenthümlich sind, gehen doch mit denen, die der andere an die Hand gibt, auf's Beste in ein Bild zusammen: und wenn Xenophon, was die philosophische Bedeutung des Sokrates betrifft, ebenso oft unter seinem Gegenstande bleibt, als Plato sich freischöpferisch über denselben hinausschwingt und seinem Sokrates platonische Speculationen in den Mund legt, so berichtigt sich beides durch die Vergleichung beider Schriftsteller leicht, und ist nicht blos auf Seiten Xenophon's als unwillkürliche Unzulänglichkeit, sondern auch auf Seiten Plato's deßwegen unverfänglich, weil er mit seinen sokratischen Dialogen den Anspruch eines historischen Schriftstellers gar nicht macht. Wie unvereinbar dagegen der matthäische und johanneische Christus sind, und wie angelegentlich gleichwohl namentlich der Verfasser des vierten Evangeliums die Wahrheit seiner Berichte betheuert, haben wir gesehen. Seine Wurzel aber hat Alles, wodurch sich die auf uns gekommenen Nachrichten über Jesus von denen über Sokrates in Absicht auf historische Zuverlässigkeit zu ihrem Nachtheil unterscheiden, in dem Unterschiede der Zeitalter und der Volksthümlichkeiten. Der reinen Luft und dem hellen Licht attischer Bildung und Aufklärung, worin uns das Bild des Sokrates so deutlich erscheint, steht der dicke trübe Nebel jüdischen Wahns und Aberglaubens und alexandrinischer Schwärmerei gegenüber, woraus uns die Gestalt Jesu kaum noch als menschliche erkennbar entgegenblickt.

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