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Daniel Schenkel: Auszüge aus Der Deutsche Protestantenverein (1868)

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Die große Restauration innerhalb der römisch-katholischen Welt hat diejenige im Schooße des deutschen Protestantismus bis jetzt mitgetragen. Seit 1815 hat unter dem Aushängeschilde der sogenannten conservativen Interessen eine Partei in der protestantischen Kirche allmählich die fast durchgängige Herrschaft an sich gerissen, die mit der modernen Cultur auf dem gespanntesten Fuße lebt, und deren Bestrebungen auf nichts Geringeres ausgehen, als die deutsche Theologie und Kirche von ihrem culturgeschichtlichen Zusammenhange mit den großen Errungenschaften der modernen Wissenschaft zu lösen und sie der Autorität des Bibel-Buchstabens und der aus dem Reformations-Zeitalter überlieferten Bekenntnißschriften unbedingt zu unterwerfen. Die Partei, welche dieses Ziel anstrebt, nennt sich „gläubig"; aber sie glaubt nicht an den lebendigen Gott, der sich in der Geschichte offenbart und eben deshalb die Wahrheit nicht an den todten Buchstaben bindet, sondern sie glaubt an ihre vermeintliche Alleinberechtigung, an ihr Privilegium unbedingter Gewissensherrschaft. Eben damit hat sie aber den Boden des Protestantismus thatsächlich verlassen. Dieser schöpft seine Lebenskraft nicht aus dem kirchlich überlieferten Dogma und nicht aus den herkömmlichen kirchlichen Institutionen. Er schöpft sie aus dem Geist der evangelischen Wahrheit und Freiheit. Wer die Ueberlieferung, das Dogma, das Herkommen in der protestantischen Kirche zur maßgebenden Autorität erhebt, der kehrt damit auf den römisch-katholischen Standpunkt zurück. Ihr redet von gegenwärtig innerhalb der protestantischen Kirche sich vollziehendem Abfall. Greift doch einmal in die eigene Brust! Wenn ihr die protestantischen Gewissen auf den angeblich unfehlbaren biblischen Buchstaben verpflichten, wenn ihr sie in die Artikel des Augsburger Bekenntnisses gefangen nehmen, wenn ihr jüngere Forscher durch Einschüchterung und Bedrohung an der gewissenhaften Prüfung der Urkunden des Christenthums hindern wollt: — dann zeigt ihr euch mit solchem Gebahren als Abgefallene von den Grundsätzen der Reformation, welche aus dem Geiste der freiesten Prüfung hervorgegangen ist; dann habt ihr selbst die Grundlagen verleugnet, auf denen seit mehr als drei Jahrhunderten die Kirche, der ihr angehört, sich erbaut hat.

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Die Verhandlungen in Eisenach führten rasch zu einer vollständigen Einigung über die Vereinsgrundsätze. Der Protestantenverein steht hiernach auf dem Grunde des evangelischen Christenthums. Dieser Grund ist durch Jesus Christus selbst gelegt, und wird eben deshalb nicht durch das traditionelle Dogma oder Bekenntniß gebildet; denn Christus hat weder Dogmen aufgestellt, noch seine Jünger auf irgend eine Bekenntnißformel verpflichtet. Das Christenthum ist ein Glaubens- und Lebensprincip in der Welt, eine Quelle des Geistes und der Kraft, eine geschichtliche Offenbarung der unmittelbaren Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott. Der Protestantenverein bekennt sich zu den Prinzipien des christlichen Glaubens und Lebens, und darum zu der Person Jesu Christi selbst, der die Wahrheit und das Leben aus Gott in für immer maßgebender Weise geoffenbart und durch seinen heiligen Geist der Menschheit eingepflanzt hat. Die Feststellung der Lehren und Satzungen, in denen diese Prinzipien einen doctrinellen Ausdruck erhalten, überläßt unser Verein den Theologen; sie mögen darüber streiten oder auch sich verständigen das ist nicht seine Sache. Was er anstiebt, ist nicht Einigung in irgend einer Dogmatik; wie eine vielhundertjährige Erfahrung lehrt, hat auch ein solches Streben stets zu nur immer größerer Spaltung und Zerklüftung von Glaubensgenossen geführt. Er beabsichtigt „die Erneuerung der protestantischen Kirche im Geist evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesammten Culturentwicklung unserer Zeit".

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