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Erich Mendelsohn, „Die internationale Übereinstimmung des neuen Baugedankens oder Dynamik und Funktion" (Auszüge, 1923)

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Es muß nunmehr noch ein weiterer Punkt geklärt werden, von dem das ganze Mißverständnis der schon zum Schlagwort gewordenen „dynamischen Architektur“ ausgegangen zu sein scheint.

Während z. B. bei einem Molenkopf die unaufhaltsam andringende Brandung das Holzwerk, also den Bau, ganz reell packt und ihn zwingt, seine überhaupt nur vorhandenen Kräfte in der Richtung des Gegenstoßes zu verwerten, tritt diese Wirkung z. B. bei einem solchen Eckbau nur in übertragenem Sinne auf.

Das Haus des Berliner Tageblatts steht am Schnittpunkt zweier verkehrsreicher Straßen im Zentrum der Stadt. Die Straßen sind verhältnismäßig schmal. Das Gebäude überragt schon an und für sich weit die Nachbarhäuser durch die Ausgedehntheit seiner beiden Flanken und durch die Höhe seiner 8 Stockwerke. Ein reeller Angriff irgendeiner Gewalt, wie z. B. beim Molenkopf, findet naturgemäß nicht statt. Aber hier ist das Haus kein unbeteiligter Zuschauer der sausenden Autos, des hin und her flutenden Verkehrs, sondern es ist zum aufnehmenden, mitwirkenden Bewegungselement geworden.

Wie es im ganzen Ausdruck sichtbar das schnelle Tempo der Straße, die bis zum äußersten gesteigerte Bewegungstendenz zur Ecke aufnimmt, so bändigt es gleichzeitig durch die Ausgeglichenheit seiner Kräfte die Nervosität der Straße und der Passanten. Das weitausladende keramische Gesims, das den alten Bau vom neuen trennt, zieht scharf zur Ecke, fällt herab und landet in den energisch vorspringenden Baldachin über dem Eingang aus. Auch das Detail ist in diese Tendenz einbezogen. – Dieses Bild der Fensterreihe wird scherzhafterweise in meinem Atelier genannt: „Die Einfahrt der Mauretania in den Berliner Westhafen“. Mir scheint diese Bemerkung ebensoviel Ironie wie Wahrheit auszusprechen. Indem es nämlich den Verkehr teilt und leitet, steht das Gebäude trotz aller Bewegungstendenz als unverrückbarer Pol in der Bewegtheit der Straße.

Es unterliegt somit einfach dem intuitiven Drang, den Willen der Zeit zum Ausdruck zu bringen, ein Element künstlerischen Schaffens, das zu allen Zeiten jene bewunderten Beruhigungspunkte und Gefühlssteigerungen geschaffen hat, wie sie einzig und allein der Architektur vorbehalten sind.

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Ähnlich wie bei der Dynamik haben wir auch bei der Begriffsdeutung der Funktion mehrere Ausgangspunkte. Die Zurückführung aller Erscheinungsformen auf die einfachsten geometrischen Grundlagen ist an und für sich die erste Forderung eines originalen Beginns. Die Kenntnis der Elemente ist von jeher die Voraussetzung des Schaffens. Die graphische Analyse führt leicht zur klaren Verständigung.

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