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„Der Wahltag" (6. Juni 1920)

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Die Wahl ist das legislative Mittel, das jeder Partei die Gelegenheit gibt, zu erproben, wie weit die von ihr vertretenen Prinzipien im Volke Eingang gefunden haben. Ergibt sich eine Mehrheit für bestimmte, von dieser oder jener Seite aufgestellte Richtlinien, so haben diese künftig maßgebend für die Staatspolitik zu sein. Und die Gegner der Grundsätze, für die sich die Mehrheit fand, haben sich zu bescheiden. Nicht allerdings, als ob sie jetzt zum Beiseitestehen verurteilt wären, im Gegenteil: ihnen bleibt das Recht, ihre Auffassung im Rahmen der Mittel, die ihnen das Parlament gibt, zu vertreten und ihr, soweit es ihnen gelingt, auch Geltung zu verschaffen. Aber sie müssen sich in diesem Rahmen halten und ihn als ihr Handeln begrenzend anerkennen. Tun sie das nicht, so verneinen sie das Wesen der Wahl und machen diese zu einer sinnlosen Farce. Ein Teil der in sich zersplitterten kommunistischen Partei beabsichtigt, so zu handeln; er verneint die staatsrechtlichen Grundlagen der Wahl und will sich doch an ihr beteiligen, nur um die Mandate, die er etwa erringt, zur Störung des parlamentarischen Lebens auszunutzen. Das ist ein Widerspruch in sich, ein Widerspruch, der hinausläuft auf eine Vergewaltigung der Grundsätze unserer Verfassung. Es wäre ein Fehler, wollte man die Berechtigung der Opposition an sich verneinen. Eine parlamentarische Opposition ist sogar erwünscht und nötig. Aber auch sie muß ihren Zweck darin sehen, durch Anregungen und durch das Geltendmachen von Bedenken positiv mitzuarbeiten an der Ausgestaltung der Gesetzgebung. Das wird von der Opposition vielfach verkannt. Auch die Nationalversammlung hat daran gelitten, daß die Opposition – sowohl die von rechts wie die von links – sich nicht mitarbeitend, sondern hindernd betätigt und Arbeit und Zeit des Parlaments in tagelangen Debatten in Anspruch nahm, die wahrlich besser angewandt worden wären.

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Die Eigenart des neuen Wahlverfahrens macht es dem Wähler, soweit er nicht Parteimann ist – und es gibt heute deren viele, die sich nicht auf eine bestimmte Parteirichtung festzulegen vermögen -, schwer, sein Votum gemäß seiner politischen Auffassung in die vorliegenden Listen einzugliedern. Und doch wäre es unverantwortlich, wollte er deshalb auf die Ausübung dieses vornehmlichsten Rechtes verzichten, das ihm sein Staatsbürgertum garantiert. Bejaht er die Existenzberechtigung des Staates an sich, will er der Geltung unseres Volkes in der

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