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Thomas Mann, „Von Deutscher Republik” (1922)

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Die Calamus-Gesänge und die ›Hymnen an die Nacht‹: das ist ja ein Unterschied wie zwischen Leben und Tod oder, wenn Goethes Bestimmung dieser Begriffe die richtige ist, der Unterschied des Klassischen und des Romantischen. ›Sympathie mit dem Tode‹: gewiß faßt die Formel das wundersam schillernde Wesen der Romantik nicht ganz, aber ihr Tiefstes und Höchstes bestimmt sie

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Keine Metamorphose des Geistes ist uns besser vertraut als die, an deren Anfang die Sympathie mit dem Tode, an deren Ende der Entschluß zum Lebensdienste steht. Die Geschichte der europäischen Décadence und des Ästhetizismus ist reich an Beispielen dieses Durchbruchs zum Positiven, zum Volk, zum Staat, – besonders in den lateinischen Ländern.

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Wir wollen das Sache der Franzosen sein lassen. Das Volk, das Witz genug hatte, den Nationalismus zu erfinden, wird auch genug haben, mit seiner Erfindung fertig zu werden. Was uns betrifft, wir werden guttun, uns um uns zu sorgen und um das, was unsere Sache – ja, sagen wir es mit dünkelloser Freude –, unsere nationale Sache ist. Ich nenne noch einmal ihren ein wenig altmodischen und heute doch wieder in Jugendglanz lockenden Namen: Humanität. Zwischen ästhetizistischer Vereinzelung und würdelosem Untergange des Individuums im Allgemeinen; zwischen Mystik und Ethik, Innerlichkeit und Staatlichkeit; zwischen todverbundener Verneinung des Ethischen, Bürgerlichen, des Wertes und einer nichts als wasserklar-ethischen Vernunftsphilisterei ist sie in Wahrheit die deutsche Mitte, das Schön-Menschliche, wovon unsere Besten träumten. Und wir huldigen ihrer positiven Rechtsform, als deren Sinn und Ziel wir die Einheit des politischen und des nationalen Lebens begriffen haben, indem wir unsere noch ungelenken Zungen zu dem Rufe schmeidigen: »Es lebe die Republik!«

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Quelle: Thomas Mann, „Von deutscher Republik“ in: Essays, Band 2: Für das neue Deutschland 1919-1925. Hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1993, S. 132-33.

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