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Thomas Mann, „Zur jüdischen Frage” (1921)

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Ein andermal in der Kindheit hielt ich es angelegentlich mit einem Knaben namens Fehér, Ungar von Geburt, einem Typus, prononciert bis zur Häßlichkeit, mit platter Nase und früh dunkelndem Schnurrbartschatten. Sein Vater betrieb ein kleines Schneidergeschäft in der Hafengegend; und da mein Elternhaus nur etwas oberhalb dieser Gegend stand, so legte ich oft den Heimweg gemeinsam mit Franz Fehér zurück, wobei er mir in seinem fremdartig schleppenden Dialekt, der mir interessanter ins Ohr lauten mochte, als unser gewöhnliches Wasserkantisch, von ungarischen Zirkusunternehmungen erzählte: nicht solchen, wie Schumann, der neulich im Reuterkruge gastiert hatte, sondern ganz kleinen, zigeunernden, deren sämtliche Mitglieder, Tier und Mensch, sich am Schlusse der Vorstellung, das Publikum salutierend, zur Pyramide aufbauen konnten. Es war amüsant, ich kann es versichern. Zudem zeigte Fehér sich erbötig, mir kleine Besorgungen und Geschäfte abzunehmen, die ich nicht auszuführen gewußt hätte, und für nur dreißig ihm eingehändigte Pfennige verschaffte er mir aus einem kleinen Kaufladen für Matrosen ein richtiges, wenn auch schlichtes und einklingiges Taschenmesser, das erste, das ich besaß. Das Anziehendste aber war, daß bei Fehérs Theater gespielt wurde, — wahrhaftig, Eltern, Kinder und Freunde der Kinder, wahrscheinlich ebenfalls „Israeliten“, waren mit Proben zum „Freischütz“ beschäftigt, den sie als Schauspiel aufzuführen gedachten: und da ich die Oper gesehen, so brannte ich darauf, mich an dieser außerordentlichen Lustbarkeit als Jägerbursche zu beteiligen: als solcher erstens, weil die bedeutenden Rollen bereits vergeben waren, zweitens aber, weil es mich aufs äußerste verlangte, nach Art der Choristen des Stadttheaters mit einer Flinte dazustehen, die Hand bei gestrecktem Arme am oberen Lauf und den Kolben am Boden. Freilich würde die Jäger-Komparserie im gewöhnlichen Anzug erscheinen, denn nur für die Hauptpersonen konnte der alte Feher Kostüme schneidern. Aber das nahm ich in Kauf, falls ich nur eine Flinte bekam, um mich gestreckten Armes darauf zu stützen, — weiß jedoch heute nicht mehr zu sagen oder erfuhr nicht, ob die Aufführung zustande kam. Teil an ihr hatte ich jedenfalls nicht, wahrscheinlich, weil bei aller Begierde Scheu des Herrensöhnchens, soziales Vorurteil mich hinderte, das Haus des jüdischen Schneiders am Fluß zu besuchen . . . .

Später dann, in Tertia, war Einer, mit dem der Schulhof mich ebenfalls oftmals kordial verbunden sah, — eines koscheren Schlächters Sohn und der lustigste Bursche von der Welt, ohne jegliche Spur des melancholischen Zuges, der diesem Volk durch seine Geschichte eingeprägt worden und der auch bei Carlebach und Fehér deutlich genug hervorgetreten war, mich auch wohl unbewußt angezogen hatte, — der lustigste Junge, sage ich, zutunlich, menschenfreundlich und ohne Arg, schlank übrigens, mager, so daß die Lippen das einzige Volle in seiner Erscheinung waren, und mit strahlenden Lächelfältchen an den äußeren Winkeln der mandelförmigen Augen. Sein Bild ist mir geblieben, weil in ihm mir zuerst der Typus des durchaus vergnügten Juden entgegentrat, der mir später noch öfter begegnet ist. Sogar bin ich geneigt, zu glauben, daß heutzutage Vergnügtheit als Grundverfassung unter Juden häufiger ist, als unter UrEuropäern — Angelegenheit dies der Rassenfrische und einer neiderregenden Fähigkeit zum Lebensgenuß, die diese Menschen für manche etwa fortwirkende äußere Benachteiligung wohl entschädigen mag. — Der schon etwas taprige Rechenlehrer bezeichnete meinen heiteren Freund unverbrüchlich als »den Schüler Lissauer«, obgleich er durchaus anders hieß, nämlich Goßlar; und nie vergesse ich das strahlend nachsichtige Lächeln, mit dem Goßlar die Schwäche des Christengreises gelten und es sich behagen ließ, zweimal wöchentlich Lissauer zu heißen. „Wenn der Schüler Lissauer das Fazit hat“, krächzte der Alte, „so möge er es uns doch sagen.“ Und mit unglaublicher, für meine lahmen Begriffe wirklich unfaßlicher Geschwindigkeit war Goßlar mit dem Fazit bei der Hand — ein Rechner ersten Ranges, der schnellste und sicherste, den ich je kannte. Mit dieser Disposition des Kopfes aber, die zur allgemeinen Helligkeit und Lustigkeit seines Wesens stimmte, entbehrte er keineswegs des Sinnes für minder scharfe Geistesbetätigungen, eine vielmehr so träumerische und dazu so irreguläre, wie das Versemachen, dem ich oblag. Denn für den linkischen Pomp der Balladen, die ich ihm mit wohl begründetem Vertrauen insgeheim unterbreitete und von denen eine, mit der Zeile beginnend: „Tief in Romas finsterstem Gefängnis“, die Geschichte des Pätus und der Arria behandelte, zeigte er eine intelligente und vorurteilslose, wenn auch mit einiger Ironie gemischte Teilnahme, deren ich mich sonst auf dem weiten Klinkerhof nirgends, weder bei Mitgefangenen, noch gar bei den Oberen zu versehen hatte.

Aber beinahe so ist es fortgegangen! Kann ich dafür? Riemer, Goethes Verhältnis zum Judentum streifend, erklärt: „Auch waren die Gebildeten unter ihnen meist zuvorkommender und nachhaltiger in der Verehrung sowohl seiner Person wie seiner Schriften als viele seiner Glaubensgenossen. Sie zeigen überhaupt in der Regel mehr gefällige Aufmerksamkeit und schmeichelnde Teilnahme als ein Nationaldeutscher, und ihre schnelle Fassungsgabe, ihr penetranter Verstand, ihr eigentümlicher Witz machen sie zu einem sensibleren Publikum, als leider unter den zuweilen etwas langsam und schwer begreifenden Echt- und Ur-Deutschen angetroffen wird.“ — Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, aber das ist genauestens meine Erfahrung; und wo ist der irgend etwas bedeutende Künstler und Schriftsteller, der sie nicht mit mir teilte? Ich vergesse nicht, daß dem allerlei entgegensteht. Es ist im Laufe der Jahre zwischen meiner Natur und der jüdischen zu schlimmen Konflikten gekommen und mußte wohl dazu kommen. Wir haben einander böses Blut gemacht. Die boshaftesten Stilisierungen meines Wesens gingen von Juden aus; die giftig- witzigste Negation meiner Existenz kam mir von dort. Aber ein Jude war es ja auch, der gesagt hat, der Todestag Goethes sei der Geburtstag der deutschen Freiheit, und doch bleibt bestehen, was Riemer schrieb, es hat in großen wie kleinen Fällen und auch in meinem nicht aufgehört, sich zu bewähren. Juden haben mich „entdeckt“, Juden mich verlegt und propagiert, Juden haben mein unmögliches Theaterstück aufgeführt; ein Jude, der arme S. Lublinski, war es, der meinen „Buddenbrooks“, die anfangs doch nur mit saurer Miene begrüßt wurden, in einem links-liberalen Blatte prompt die Verheißung gab: „Dieses Buch wird wachsen mit der Zeit und noch von Generationen gelesen werden.“ Und wenn ich in die Welt gehe, Städte bereise, so sind es, nicht nur in Wien und Berlin, fast ohne Ausnahme Juden, die mich empfangen, beherbergen, speisen und hätscheln.

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