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Thomas Mann, „Kultur und Sozialismus” (1927)

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Das Wort „Kultur“ ist einer Herkunft mit jenem anderen, das sich von ihm nur durch einen Buchstaben der Endung unterscheidet, dem Worte „Kultus“. Beide bedeuten „Pflege“, dieses im Sinne der Verehrung und rituellen Betreuung der religiösen Heilsgüter, jenes in dem einer vom Religiösen gelösten und rein humanen ästhetisch-moralischen Verfeinerung, Veredelung, Steigerung des innerlich Individuellen, welcher man eine mittelbar weltfördernde Wirkung zuschreibt, ohne daß es unmittelbar auf eine solche abgesehen wäre. Eben hierdurch, nämlich durch die Unwillkürlichkeit und persönliche Unvorgesehenheit seiner über- und außerindividuellen Wirkungen, tritt ein Element des Wunderartigen und Mystischen in den Kulturbegriff ein, das seinen religionsnahen Charakter aufs neue deutlich macht. Denn im Verhältnis zum eigentlich Kultischen ist „Kultur“ zwar ein profaner Begriff; zusammengehalten aber mit dem der „Zivilisation“, der gesellschaftlichen Gesittung also, erweist er seinen religiösen, das heißt: seinen wesentlich ungesellschaftlichen, egoistisch-individualistischen Charakter. „Der religiöse Mensch“, sagt Nietzsche, „denkt nur an sich.“ Das heißt: er denkt an seine „Rettung“, sein eignes Seelenheil – und, ursprünglich wenigstens, an nichts weiter, huldigt jedoch unter der Hand und prinzipiell dem Glauben und vertraut der Verheißung, das innere Werk seiner Selbstheiligung werde auf irgendeine mystische Weise „dem Ganzen“ zustatten kommen. Das ist durchaus auch der Fall des Kulturgläubigen.

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Der deutsche Sozialismus, Erfindung eines in Westeuropa erzogenen jüdischen Gesellschaftstheoretikers, ist von deutscher Kulturfrömmigkeit immer als landfremd und volkswidrig, als Teufelei pur sang empfunden und verflucht worden: mit Fug, denn er bedeutet die Zersetzung der kulturellen und anti-gesellschaftlichen Volks- und Gemeinschaftsidee durch die der gesellschaftlichen Klasse. Wirklich ist dieser Zersetzungsprozeß soweit fortgeschritten, daß man den kulturellen Ideenkomplex von Volk und Gemeinschaft heute als bloße Romantik anzusprechen hat und das Leben mit allen seinen Gehalten an Gegenwart und Zukunft ohne allen Zweifel auf Seiten des Sozialismus ist –, dergestalt, daß ein dem Leben zugewandter Sinn – und sei er es auch nur ethisch-willentlich, nicht seinem vielleicht romantisch-todverbundenen Wesen nach – gezwungen ist, es mit ihm und nicht mit der bürgerlichen Kulturpartei zu halten. Der Grund dafür ist, daß, obgleich das Geistige in Gestalt des individualistischen Idealismus ursprünglich mit dem Kulturgedanken verbunden war, während die gesellschaftliche Klassenidee ihre rein ökonomische Herkunft nie verleugnete, diese dennoch weit freundlichere Beziehungen zum Geist unterhält als die bürgerlich volksromantische Gegenseite, deren Konservativismus die Berührung mit dem lebendigen Geist, die Sympathie mit seinen Lebensforderungen, für jedes Auge sichtbar, fast völlig verloren und verlernt hat. Es war an anderer Stelle kürzlich die Rede von jenem krankhaften und gefahrdrohenden Spannungsverhältnis, welches in unserer Welt sich hergestellt hat zwischen dem Geist, dem von den Spitzen der Menschheit eigentlich bereits erreichten und innerlich verwirklichten Erkenntnisstande –, und der materiellen Wirklichkeit, dem, was in ihr noch immer für möglich gehalten wird. Diese beschämende und gefährliche Diskrepanz nach Möglichkeit zu tilgen, legt aber die sozialistische Klasse, die Arbeiterschaft, einen unzweifelhaft besseren und lebendigeren Willen an den Tag als ihr kultureller Widerpart, handle es sich nun um die Gesetzgebung, die Rationalisierung des Staatslebens, die internationale Verfassung Europas oder um was immer. Die sozialistische Klasse ist, in geradem Gegensatz zum kulturellen Volkstum, geistfremd nach ihrer ökonomischen Theorie, aber sie ist geistfreundlich in der Praxis –, und das ist, wie heute alles liegt, das Entscheidende.

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Quelle: Thomas Mann, „Kultur und Sozialismus“ (1927), in Thomas Mann, Essays, Band 3: Ein Appell an die Vernunft 1926-1933, herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1994, S. 57-63.

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