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Eine ostdeutsche Schulaufsichtsbeamtin berichtet über ihre Erfahrungen während der Wende (1. Oktober 2003)

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Nicht nur in Sachsen, sondern auch in den übrigen neuen Bundesländern orientierten sich die neuen schulrechtlichen Bestimmungen fast ausschließlich am Modell des westdeutschen gegliederten Oberschulsystems (Hauptschule, Realschule, Gymnasium), bei einigen durch die Gesamtschule ergänzt. Erst im Zuge einer späteren Modifizierung einzelner Schulgesetze und der damit ebenfalls verbundenen strukturellen Änderungen wurden vorsichtig neue Wege bestritten. So legte man beispielsweise in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die beiden Schulformen Haupt- und Realschule zur Mittelschule, je nach Bundesland auch Regel- oder Sekundarschule genannt, zusammen. In Berlin dagegen wurde 1991 das Westberliner Schulgesetz vollständig auf Ostberlin übertragen, da unterschiedliche Regelungen im Schulwesen einer Stadt vor allem im Interesse ihrer Schüler nicht zu vertreten waren.

Als dann schließlich mit Beginn des Schuljahres 1991/92 – in Sachsen ein Jahr später – die DDR-Einheitsschule aufhörte zu existieren, begann in Deutschland ein beispielloses Experiment, auf das kaum jemand ausreichend vorbereitet war. Für alle war alles fremd. Nicht nur neue schul- und verwaltungsrechtliche Bestimmungen, auch zum Teil gänzlich neue Bildungsinhalte und Unterrichtsmethoden, mit denen kein Lehrer sich zuvor beschäftigt hatte, bestimmten fortan das schulische Leben. Neu zusammengesetzte Lehrerkollegien und Schulklassen, neue, politisch und ideologisch unbelastete, dafür aber unerfahrene Schulleiter mussten in zum Teil fremden Schulgebäuden, deren baulicher Zustand und materielle Ausstattung häufig genug zu wünschen übrig ließen, versuchen, miteinander zurechtzukommen und gemeinsam zu lernen. Dabei galt es Abschied zu nehmen von einer pädagogischen Praxis, zu der neben der Ideologisierung des gesamten Schulalltags bis ins Detail abzuarbeitende Lehrpläne und eine Stoffüberladung des Unterrichts ebenso gehörten wie autoritäre Umgangsformen, Frontalunterricht, mangelnde Differenzierung und Verzicht auf individualisiertes Lernen.

Die neuen Anforderungen an Schule trafen dabei weitgehend auf eine Lehrerschaft, die ihren Beruf unter DDR-Bedingungen gelernt und ausgeübt hatte. Nur etwa 10 bis 20 Prozent – abhängig von der Praxis des jeweiligen Bundeslandes – schieden aus dem Schuldienst aus bzw. wurden entlassen. Die Schulleitungen wurden allesamt abgesetzt, konnten aber in der Regel als „einfache“ Lehrer weiterarbeiten.

Der Einigungsvertrag hatte für Entlassungen aus dem Schuldienst als Kündigungsgründe aufgeführt: mangelnde fachliche Qualifikation oder personelle Eignung, fehlender Bedarf, Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit sowie die Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit. Die einzelnen Länder orientierten sich zwar in ihrer Überprüfungs- und Entlassungspraxis an diesen Kriterien, zogen aber aus den Ergebnissen unterschiedliche Konsequenzen bzw. setzten unterschiedliche Schwerpunkte. Als eine ihrer ersten personalpolitischen Maßnahmen unterzogen sie die sogenannten Modrow-Lehrer und diejenigen Lehrer mit ideologisch besonders belasteten Fächern wie Staatsbürgerkunde und Marxismus/Leninismus einer persönlichen und/oder fachlichen Eignung. Daneben fanden die generellen Lehrerüberprüfungen durch die Gauck-Behörde (genannt nach dem ersten Bundesbeauftragten für die Staatssicherheits-Unterlagen) statt, die sich allerdings über Jahre hinzogen. Bei den Überprüfungsverfahren ging das Bundesland Sachsen bei weitem am rigorosesten vor. In der Rangfolge dominierte eindeutig die persönliche Integrität, während beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt die fachliche Qualifikation den Ausschlag gab.

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Letztlich bedingten also die personalpolitischen Entscheidungen der Länder-Verwaltungen und der Berliner Verwaltung in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung im Schulwesen – anders als im Hochschulbereich – eine verhältnismäßig hohe personelle Kontinuität, die allerdings bis heute einen Prozess des Umdenkens und Umlernens erfordert, der allen Beteiligten große Anstrengungen abverlangt.

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