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Bundespräsident Roman Herzog ruft zu einer Reform des deutschen Bildungssystems auf (5. November 1997)

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Sind unsere Lehr- und Ausbildungspläne hinreichend aktuell und zeitgemäß für die Praxis? Vor allem in unserem dualen Ausbildungssystem habe ich daran Zweifel. Es ist schlimm genug, daß wir offenbar zu wenig Ausbildungsplätze haben und leistungswillige junge Leute auf „Last-Minute-Initiativen” vertrösten müssen. Das eigentliche Problem aber ist, daß die Veränderungen in der Berufswelt heute hundertmal schneller verlaufen als die Anpassung und Formulierung zeitgemäßer „Berufsbilder”. Viele der boomenden Dienstleistungsbranchen bei uns haben keinerlei definierten Ausbildungsweg! Viele Jugendliche müssen sich mit einem „Training on the Job” begnügen — und das in Zukunftsbranchen!

Wenn wir verhindern wollen, daß unser zu Recht gerühmtes duales Ausbildungssystem zum Auslaufmodell wird, wenn wir weiterhin Arbeitgebern und Jugendlichen eine festgeschriebene Ausbildungsqualität garantieren wollen, dann müssen wir unsere Ausbildungsordnungen also permanent modernisieren, und wenn der klassische Facharbeiter, wie manche sagen, langsam auszusterben droht und in Zukunft der multifunktionale Mitarbeiter mit Teamqualitäten gefragt ist, dann muß unser Berufsbildungssystem auch darauf reagieren: durch neue Ausbildungsverbünde, fächerübergreifende Rotationsmodelle, Stärkung von Schlüsselqualifikationen und so weiter. Ich weiß, daß hierfür schon längst Vorschläge auf dem Tisch liegen und daß in den letzten Jahren schon über fünfzig Ausbildungsberufe gründlich überarbeitet worden sind. Auch die Berufsakademien setzen gute Beispiele, und manche Unternehmen haben eigene, vorbildliche Betriebs-Berufsschulen eingerichtet. Aber die Mühlen unserer Ausbildungsbürokratie mahlen immer noch zu langsam, trotz der Fortschritte in der letzten Zeit.

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Ich wünsche mir — drittens — ein Bildungssystem, das international ist.

Dafür reicht die Einführung neuer, international anerkannter Hochschulabschlüsse, so wichtig sie ist, nicht aus. Alle unsere Bildungsstätten sind gefordert, sich noch mehr als bisher der Welt zu öffnen, kosmopolitischer zu werden. Wir müssen schon früh die wichtigsten Sprachen der Welt lehren; warum beginnen wir nicht mit dem Englischunterricht in der Grundschule? Sprachen lernt man am effektivsten in ganz jungen Jahren. Warum bauen wir nicht den bilingualen Unterricht an unseren Schulen konsequent aus? Und ist es wirklich abwegig, ganze Schulklassen für ein halbes Jahr im Ausland unterrichten zu lassen und dafür Austauschschüler für sechs Monate auf deutsche Schulbänke zu holen?

Provinzielles Denken darf vor allem in unserer Hochschullandschaft keinen Platz haben. Ich weiß: Es gibt inzwischen schon eine Reihe von Hochschulen, in denen — beispielsweise — Vorlesungen auf Englisch zum Alltag gehören und die ein enges Netzwerk mit ausländischen Universitäten geknüpft haben. Aber ich sehe auch noch immer große Inseln des Provinzialismus:

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