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Schwarz-Gelb: Die ersten 100 Tage (4. Februar 2010)

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Die Ursachen liegen tiefer

Die anhaltende Unwucht dieser Koalition hat nicht nur mit unterschiedlichen Vorgeschichten der Beteiligten, einem Koalitionsvertrag voller Nichtentscheidungen und den Überschusshandlungen neuer Regierungsmitglieder am Ziel ihrer Träume zu tun. Die Ursachen liegen tiefer. Alle drei Parteien sind auf der Suche nach sich selbst. Das zeigen schon die Konfliktlinien, die nicht selten quer zu den Parteigrenzen verlaufen. CDU und CSU, vom Schwinden ihrer Bindekraft gepeinigt, versuchen krampfhaft, die Volkspartei neu zu erfinden, im Zweifel durch Verbreiterung des Angebots. Die CSU überwand den Schock noch nicht, die Alleinherrschaft über Bayern verloren zu haben und mit einer Partei paktieren zu müssen, für die sie früher nicht einmal Mitleid übrig hatte wie für die bayerische SPD.

Die FDP müht sich nach Kräften, aus der Ecke der Klientelpartei herauszukommen. Das trug wesentlich zu ihrer Erfolgsserie bis zur letzten Bundestagswahl bei, die im Mai abzureißen droht. Deswegen schmerzen die FDP die Tiefschläge, die der SPD-Chef Gabriel der „Mövenpick“-Partei versetzt, besonders. Als Gemischtwarenhändler verwässern Unionsparteien und FDP aber nicht nur ihr jeweiliges Profil; sie machen sich gegenseitig auch mehr Konkurrenz als früher. Die lässt sich nicht dadurch aufheben, dass die Parteivorsitzenden gelegentlich rohes Rindfleisch miteinander essen.

Zauberformel für das „gerechte“ Kürzen

Freilich machen es auch die Regierten den Regierenden nicht leicht. Politische Treue wird nicht mehr fürs Leben oder sogar über Generationen hinweg geschworen. Milieus, so es sie noch gibt, lösen sich auf, Schichten driften auseinander. Die Neigung, die Verantwortung für das eigene Leben dem Staat zu übertragen, scheint sich dagegen auszubreiten. Offenbar verzichten nicht wenige lieber auf Steuersenkungen als auf das gewohnte Maß der staatlichen Daseinsfürsorge. Der Sozialstaat könnte aber auch dann nicht allen Bürgern gerecht werden, wenn er nicht schrumpfen müsste. Die Zauberformel für das „gerechte“ Kürzen hat in diesem Land noch keine Regierung gefunden.

Die Bewährungsprobe steht auch der schwarz-gelben Koalition noch bevor: Sie kommt nach der Nordrhein-Westfalen-Wahl, wenn das Sparen losgeht. Dann wird sich zeigen, ob Union und FDP trotz ihres unterschiedlichen Bürger- und Staatsbildes – die Diskrepanz liegt auch dem Streit um Krankenkassen- und Steuerreform zugrunde – zu einer halbwegs einheitlichen Politik fähig sind, die den Angriffen der linken Parteien standhält. Denn die sind der politische Gegner, selbst wenn die Koalitionspartner auch dazu noch unterschiedliche Ansichten hegen, mitunter sogar in die Zukunft gerichtete.



Quelle: Berthold Kohler, „Hundert Tage Schwarz-Gelb: Weniger als die Summe“, FAZ.NET, 4. Februar 2010. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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