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Rosa Luxemburg, „Rede zum Programm” (30. Dezember 1918)

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Hier heißt es: Im Anfang war die Tat; und die Tat muß sein, daß die Arbeiter- und Soldatenräte sich berufen fühlen und es lernen, die einzige öffentliche Gewalt im ganzen Reiche zu werden. Nur auf diese Weise können wir den Boden so unterminieren, daß er reif wird zu dem Umsturz, der dann unser Werk zu krönen hat. Und deshalb, Parteigenossen, war es auch nicht ohne klare Berechnung und ohne klares Bewußtsein, wenn wir Ihnen gestern ausführten, wenn ich speziell Ihnen sagte: Machen Sie sich den Kampf nicht weiter so bequem! Von einigen Genossen ist es falsch dahin aufgefaßt worden, als hätte ich angenommen, sie wollten bei der Boykottierung der Nationalversammlung mit verschränkten Armen stehen. Nicht im Traum ist mir das eingefallen. Ich konnte bloß nicht mehr auf die Sache eingehen; in dem heutigen Rahmen und Zusammenhang habe ich die Möglichkeit. Ich meine, die Geschichte macht es uns nicht so bequem, wie es in den bürgerlichen Revolutionen war, daß es genügte, im Zentrum die offizielle Gewalt zu stürzen und durch ein paar oder ein paar Dutzend neue Männer zu ersetzen. Wir müssen von unten auf arbeiten, und das entspricht gerade dem Massencharakter unserer Revolution bei den Zielen, die auf den Grund und Boden der gesellschaftlichen Verfassung gehen, das entspricht dem Charakter der heutigen proletarischen Revolution, daß wir die Eroberung der politischen Macht nicht von oben, sondern von unten machen müssen. Der 9. November war der Versuch, an der öffentlichen Gewalt, an der Klassenherrschaft zu rütteln, – ein schwächlicher, halber, unbewußter, chaotischer Versuch. Was jetzt zu machen ist, ist, mit vollem Bewußtsein die gesamte Kraft des Proletariats auf die Grundfesten der kapitalistischen Gesellschaft zu richten. Unten, wo der einzelne Unternehmer seinen Lohnsklaven gegenübersteht, unten, wo sämtliche ausführenden Organe der politischen Klassenherrschaft gegenüber den Objekten dieser Herrschaft, den Massen stehen, dort müssen wir Schritt um Schritt den Herrschenden ihre Gewaltmittel entreißen und in unsere Hände bringen. Wenn ich es so schildere, nimmt sich der Prozeß vielleicht etwas langwieriger aus, als man geneigt wäre, ihn sich im ersten Moment vorzustellen. Ich glaube, es ist gesund für uns, wenn wir uns mit voller Klarheit alle Schwierigkeiten und Komplikationen dieser Revolution vor Augen führen. Denn ich hoffe, wie auf mich, so wirkt auch auf keinen von Euch die Schilderung der großen Schwierigkeiten, der sich auftürmenden Aufgaben dahin, daß Ihr etwa in Eurem Eifer oder Eurer Energie erlahmt; im Gegenteil: je größer die Aufgabe, um so mehr werden wir alle Kräfte zusammenfassen; und wir vergessen nicht: die Revolution versteht ihre Werke mit ungeheurer Geschwindigkeit zu vollziehen. Ich übernehme es nicht, zu prophezeien, wie viel Zeit dieser Prozeß braucht. Wer rechnet von uns, wen kümmert das, wenn nur unser Leben dazu ausreicht, es dahin zu bringen! Es kommt nur darauf an, daß wir klar und genau wissen, was zu tun ist; und was zu tun ist, hoffe ich mit meinen schwachen Kräften Ihnen einigermaßen in den Hauptzügen dargelegt zu haben.

(Stürmischer Beifall.)



Quelle: Rosa Luxemburg, „Rede zum Programm“, in Politische Reden III 1914-1945, herausgegeben von Peter Wende. Deutscher Klassiker Verlag: Frankfurt am Main, 1994, S. 142-75.

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