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Wut in der Bevölkerung gegen die Kürzung des Arbeitslosengeldes (9. August 2004)

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Während die Politiker über eine angeblich bevorstehende neue „Enteignungswelle“ klagen, tauschen die Betroffenen in den einschlägigen Internet-Foren fleißig Tipps aus, wie sich die neuen Gesetze umgehen lassen: in der Wohngemeinschaft die gemeinsame Haushaltskasse auflösen? Das gut gefüllte Bankkonto zum Ablösen des Hauskredits einsetzen? Die Wertpapiere in einen gut ausgestatteten Neuwagen investieren? „Wenn bei Ihnen absehbar notwendige Ausgaben ins Haus stehen“, heißt es in den entsprechenden Merkblättern von Arbeitsloseninitiativen, „sollten Sie diese aus dem Vermögen tätigen, bevor Sie den Antrag auf Alg II abgeben.

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Wie überzogen die allgemeine Verarmungsdebatte ist, zeigt vor allem der internationale Vergleich. Selbst nach dem vermeintlichen Sozialraub durch Hartz IV liegt die deutsche Stütze noch immer auf einem ähnlich guten Niveau wie in Dänemark, Frankreich oder Schweden. Dass die Debatte um das geplante arbeitsmarktpolitische Großprojekt in der vergangenen Woche zusehends entglitt, hat sich die Bundesregierung zum erheblichen Teil selbst zuzuschreiben. Bis heute ist nicht klar, wie die lautstark angekündigte Förderung der Arbeitslosen neben dem Forderungskatalog aussehen soll. Als verhängnisvoll erwies sich vor allem die Entscheidung, bereits im vergangenen Monat das hoch komplizierte 16-seitige Antragsformular an die Arbeitslosen zu versenden, obwohl noch gar nicht alle Verwaltungsvorschriften erlassen und Arbeitsamtsberater kaum vorbereitet waren. Es kam, wie es kommen musste: Die überforderten Mitarbeiter an den Agentur-Hotlines gaben höchst widersprüchliche Auskünfte. Die Fragesteller blieben vielfach ratlos und verwirrt zurück. Bundeskanzler Gerhard Schröder, Fraktionschef Franz Müntefering und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement geben sich von alldem unbeeindruckt. Natürlich seien Nachbesserungen jederzeit denkbar, entfuhr es Schröder am Rande seiner Polen-Reise. Angesichts der komplexen und historisch einmaligen Reformprozesse müssten die Deutschen sich daran gewöhnen, dass zuweilen nachgesteuert wird. „Das ist nicht ehrenrührig“, sagt er. „Das ist sogar vernünftig.“ Der zuständige SPD-Experte Klaus Brandner hat die Forderungen bereits in einem Brief an Minister Clement aufgelistet. Per Verordnung müssten die Härtefallregelungen präzisiert, die Zuverdienstmöglichkeiten ausgeweitet und die geplanten Arbeitsförderungsmaßnahmen effizienter ausgestaltet werden. Auch der Auszahlungszeitpunkt für das neue Arbeitslosengeld II wird noch einmal geändert. Statt der bisher geplanten elf Zahlungen wird es im nächsten Jahr nun doch zwölfmal Staatsknete geben. Am Kern der Reform, das machten Müntefering und Schröder ebenfalls klar, wollen sie nicht rütteln lassen: Stehvermögen sei gefragt, sagt der Kanzler. Für die Horrorszenarien der PDS und die Wankelmütigkeiten der Union habe er kein Verständnis: „Das ist nun wirklich typisch deutsch und typisch Opposition.“ Clement weiß, dass insbesondere sein Schicksal mit Hartz IV verbunden ist. Eine Verschiebung der Reform, wie sie nun erneut von zahlreichen Kritikern gefordert wird, wird es mit ihm nicht geben, machte er erst jüngst vor Vertrauten deutlich, die sich im Ministerbüro um ihn versammelt hatten: „Dann könnte ich ja gleich nach draußen auf den Balkon treten“, sagte er – und setzte sich Zeige- und Mittelfinger zum symbolischen Todesschuss an die Schläfe.



Quelle: Stefan Berg, Alexander Neubacher, Michael Sauga und Steffen Winter, „Die große Hartz-Hysterie“, Der Spiegel, 9. August 2004.

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