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Wut in der Bevölkerung gegen die Kürzung des Arbeitslosengeldes (9. August 2004)

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Auch Andreas Ehrholdt aus dem 400 Einwohner-Ort Woltersdorf weiß, was Arbeitslosigkeit bedeutet. Seinen Job als Transportarbeiter bei der Deutschen Reichsbahn hatte der Mann aus Sachsen-Anhalt gleich nach der Wende verloren. Danach kam er nie wieder richtig auf die Beine. Er versuchte es als Selbständiger, als Wachschützer, als Pizza-Bäcker. Ehrholdt schulte um auf Bürokaufmann. Nur einen Job fand er nicht. Dafür wurde er bekannt, seit er auf die Idee kam, in Magdeburg die Montagsdemonstrationen der Wende wiederzubeleben, diesmal im Kampf gegen Arbeitslosigkeit: „Das Maß ist an Sprüchen voll. Es ist an der Zeit loszumarschieren.“ Ehrholdt bastelte zu Hause 200 Plakate mit einem Demo-Aufruf und meldete bei der Polizei für den 26. Juli die erste Versammlung auf dem Domplatz an. Die Beamten meinten, er müsse angeben, wie viele Leute kommen. Ehrholdt zuckte die Schultern. „Machen wir 100“, schlug der Polizist vor. „Na ja, nicht so pessimistisch. 200 müssen es werden“, hielt der Organisator gegen. Am Ende kamen 600. Am vergangenen Montag kamen bereits 6000. Für diesen Montag hat Ehrholdt 12 000 Demonstranten angemeldet. Mehrere andere Städte ziehen nach – in Leipzig, Dresden, Suhl werden die Menschen auf die Straße gehen. Der Segen dafür kommt auch noch von einem prominenten Sozialdemokraten: „Wer arbeitslos wird, gerät mit Hartz IV in die Armutsfalle“, schreibt Theologe Friedrich Schorlemmer im Neuen Deutschland, „die SPD schaufelt sich ihr Grab.“ Die Wutwelle, die durch Ostdeutschland rollt, könnte demnächst die ersten politischen Folgen haben. Wahlforscher prognostizieren der PDS für die bevorstehenden Landtagswahlen große Zugewinne. In Brandenburg, wo einst Manfred Stolpe 54 Prozent errang, könnte dessen Nachfolger Platzeck Opfer jener Mischung aus Volkszorn und Panikmache werden, mit der PDS-Kandidatin Dagmar Enkelmann gegenwärtig durch die Säle zieht. Hartz IV, räumt SPD-Sozialminister Günter Baaske ein, „könnte uns das Genick brechen“. Die Wut trifft generell die Obrigkeit. Sachsens CDU-Ministerpräsident Milbradt muss um seine sicher geglaubte absolute Mehrheit fürchten. 44 Prozent sagten ihm vergangene Woche plötzlich nur noch die Wahlforscher voraus. Nun tönt er fast wortgleich wie die PDS, Hartz IV müsse gestoppt und verschoben werden.

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Tatsächlich wird die „größte Sozialreform der Geschichte“ (Clement) die gut drei Millionen Langzeitarbeitslosen der Republik höchst unterschiedlich treffen. Wer vor dem Sturz in die Arbeitslosigkeit viel verdient hat oder mit einem gut situierten Partner zusammenlebt, muss künftig teils drastische Leistungskürzungen hinnehmen. Viele Niedrigverdiener mit Kindern dagegen sowie die rund eine Million erwerbsfähigen Sozialhilfebezieher fahren besser als heute. Für sie zahlt der Staat künftig nicht nur Beiträge in die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung. Sie dürfen sich – anders als derzeit – auch ein „angemessenes Kraftfahrzeug“ leisten und brauchen nicht länger zu fürchten, dass der Staat die Stütze bei Eltern oder Kindern zurückfordert. Genauso falsch ist der von Politikern aller Couleur verbreitete Eindruck, die Reform werde Langzeitarbeitslosen den letzten Cent ihres Privatvermögens nehmen und damit „diejenigen bestrafen, die Eigenvorsorge für das Alter treffen“, wie der saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller klagt. Das Gegenteil ist richtig. So darf ein 50- jähriger Arbeitslosenhilfe-Bezieher derzeit lediglich Wertpapiere, Sparkonten oder Lebensversicherungspolicen im Wert von 10000 Euro besitzen. Hat er mehr auf der hohen Kante, kann ihn das Amt zwingen, erst einmal vom angesammelten Kapital zu leben. Sozialhilfebeziehern ist aktuell sogar nur ein so genanntes Schonvermögen von 1279 Euro erlaubt. Mit Hartz IV dagegen verbessern sich die Verhältnisse beträchtlich: Die Vermögensfreibeträge erhöhen sich auf 20000 Euro, anrechnungsfrei bleiben Riester-Renten, ein „angemessenes“ Eigenheim und das Vermögen von Eltern oder Kindern, die nicht im Haushalt leben.

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