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Bundespräsident Johannes Rau fordert eine Globalisierungspolitik (13. Mai 2002)

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XI.

Das internationale Umfeld, in dem die deutsche Wirtschaft agiert, hat sich in den letzten Jahren verändert. Der internationale Wettbewerb ist schärfer geworden. Das spüren nicht nur Unternehmer, das spüren auch die Arbeitnehmer. Handwerksbetriebe merken, dass die Zahl der Anbieter für Vorprodukte sinkt, dass die Nachfragemacht großer Konzerne zunimmt, dass der Preisdruck steigt.

Noch nie haben sich so viele Arbeitnehmer Sorgen gemacht, ob ihr Unternehmen zum Übernahmeobjekt ausländischer Konzerne werden könnte und was dann aus ihnen würde. Das ist Gesprächsthema in den Betrieben, an der Theke und zu Hause. Die Menschen stellen fest: Die immer wieder geforderte permanente Mobilität hat konkrete Auswirkungen für die Familien, für den Freundeskreis oder den Verein. Wenn beide Ehepartner berufstätig sind und beide flexibel und mobil sein sollen, dann stehen sie vor der Frage, ob einer von ihnen den Beruf aufgeben muss oder ob die Wochenend-Ehe zum Normalfall werden soll.

Unser Grundgesetz schützt Ehe und Familie besonders. Dennoch scheitern Pläne und Beziehungen an Rahmenbedingungen, die besonders Müttern immer wieder ein schlechtes Gewissen machen, weil sie keine gute Betreuung für ihre Kinder finden.

Menschen sind nicht so mobil und nicht so bindungslos wie Kapital, und sie werden und sie wollen es auch nie sein. Wir brauchen Heimat und Bodenhaftung. Wir brauchen familiäre Bindungen, Freunde, Bekannte, ein starkes soziales Netz. Menschen brauchen Wärme und sie brauchen Geborgenheit. Wer das für altmodisch hält, der täuscht sich. Die Politik muss Ängste und Unsicherheiten ernst nehmen. Sie muss Orientierung bieten.

Manche deutsche Unternehmen versuchen, dem Begriff der Flexibilität in ihrer Personalpolitik einen neuen Sinn zu geben: Sie wollen die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter flexibel aufnehmen. Sie wissen: Ein Unternehmen, das die Interessen und die Lebenssituation der Beschäftigten nicht ernst nimmt, das wirtschaftet auf Dauer nicht erfolgreich. Das wird in den kommenden Jahren noch wichtiger, wenn die Zahl der Berufstätigen aus demographischen Gründen zurückgehen wird.

Unternehmen erwarten von der Politik zu Recht, dass sie ihnen Planungssicherheit gibt. Weniger Sicherheit als den Unternehmen darf man auch den Menschen nicht zumuten. Ein soziales Sicherungssystem, das die großen Lebensrisiken auffangen kann, stärkt die Freiheit des Einzelnen. Wer Angst hat vor dem, was morgen wird, der klammert sich mit aller Kraft an das, was heute ist. Ein Grundgefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit macht offen für neue Wege.

Der Sozialstaat ist kein Bremsklotz für die wirtschaftliche Dynamik. Im Gegenteil: Richtig geordnet stärkt er die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, weil er die Menschen entlastet und Freiraum schafft für Kreativität und Leistung.

Ganz gewiss brauchen wir Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen. Wir müssen über Bismarck hinaus, aber nicht hinter Bismarck zurück. Dass die Menschen auf Solidarität und Gerechtigkeit im Inneren vertrauen können, das ist die Voraussetzung dafür, dass wir mehr Gerechtigkeit im globalen Maßstab erreichen können.

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