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Felix Gilbert über seine Zeit als Student Friedrich Meineckes in den zwanziger Jahren (Rückblick 1988)

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Jeder Teilnehmer des Seminars hatte ein Referat zu liefern, das ein mit dem Thema des Seminars im Zusammenhang stehendes spezielles Problem behandelte; der Vortrag des Referats beanspruchte gewöhnlich die Hälfte der Zeit des zweistündigen Seminars. Gewöhnlich sagte Meinecke nach dem Referat nicht mehr als »Danke«; wenn er aber hinzufügte: »Gut«, glaubte man im siebenten Himmel zu sein. Manche Teilnehmer des Seminars machten den Mund nur höchst widerwillig auf; sie wollten sich vor Meinecke nicht mit einer unangemessenen Bemerkung blamieren. Das war meiner Ansicht nach höchst töricht, aber es zeigte Meineckes enormes Prestige und seine Autorität. Seine Studenten wußten, daß die Qualität einer Arbeit für ihn das alleinige Kriterium war, daß er ganz unvoreingenommen urteilte und daß seine Urteile nicht von ideologischen Neigungen beeinflußt waren. Ein gutes Beispiel ist Meineckes Haltung zum Werk Eckart Kehrs.

In meinen Berliner Jahren hatte Eckart Kehr, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Vorkämpfer der Sozialgeschichte und der Anwendung sozialkritischer Maßstäbe auf die deutsche Vergangenheit berühmt wurde, gerade seine Dissertation über den Aufbau der deutschen Kriegsmarine beendet, den er, ganz im Gegensatz zur traditionellen Doktrin über den Vorrang der Außenpolitik, als Ergebnis einer Aussöhnung zwischen den Interessen der Großgrundbesitzer und denen der Schwerindustrie darstellte. Sicher war Meinecke nicht besonders begeistert von dieser Betonung der Rolle materieller Interessen in der Außenpolitik des Reiches. Aber er war von der Qualität von Kehrs Forschung so beeindruckt, daß er etwas sehr Ungewöhnliches tat: In seinem eigenen Buch über die »Geschichte des deutsch-englischen Bündnisproblems«, das 1927 erschien, erwähnte er lobend Kehrs Manuskript, das damals noch unveröffentlicht war.

Ich kannte Kehr recht gut. Er war eine erstaunliche Mischung von hoher Intelligenz und Naivität. Er kam aus einer preußischen Beamtenfamilie und hatte manches von deren asketischen Traditionen geerbt; so war er mißtrauisch gegenüber Reichtum und neigte zu dem Glauben, daß reiche Leute schlecht sein müßten. Andererseits meinte er, daß die Menschen, wenn man sie mit der Wahrheit konfrontiere, diese am Ende auch akzeptieren würden – welche Vorurteile, überlieferten Gewohnheiten und persönlichen Interessen sie auch haben mochten. Sich selbst sah Kehr als den Verfechter einer neuen, modernen Richtung der Geschichtsschreibung, und es gibt keinen Zweifel, daß er vielen von uns als der geborene Führer einer neuen Generation von Historikern erschien.

Meineckes Berliner historisches Seminar war für alle intellektuell aufgeschlossenen Studenten mit demokratischen Neigungen ein Anziehungspunkt. Das machte unsere Generation bei älteren, konservativen Historikern, die das akademische Leben noch immer bestimmten, nicht gerade beliebt.

Anläßlich der Emeritierung Meineckes 1928 wurde im Berliner Historischen Seminar von seinen damaligen Studenten zu seinen Ehren ein kleines Fest arrangiert, zu dem auch seine älteren Schüler gekommen waren. Kehr und ich hatten ein Stück geschrieben, in dem wir uns ein wenig über patriotische Mythen lustig machten (ich muß gestehen, daß Kehr die mehr satirischen und amüsanten Passagen verfaßte, während ich die Schärfe des Tons hier und da durch die Einfügung patriotischer und gefühlvoller Verse milderte). Ich bin sicher, daß dieses Stück sehr mittelmäßig war; aber die unverhohlene Verachtung, die es uns bei Meineckes älteren Schülern eintrug, die ihre Bewunderung in einer traditionellen Lobrede zum Ausdruck gebracht hatten, war nicht so sehr auf die Qualität unserer Dichtung zurückzuführen als vielmehr auf unseren Mangel an Respekt vor der Vergangenheit und unseren Radikalismus.

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Nachdem man seine Dissertation fertiggestellt hatte, ging man zu seinen Professoren, um einen Termin für die mündliche Prüfung auszumachen. Diese Festlegung eines Prüfungstermins fand normalerweise vier oder sechs Wochen vor der Prüfung statt. Anfang Januar 1931, gleich nach den Weihnachtsferien, ging ich zu Meinecke. Nachdem ich ihm den Zweck meines Besuches erklärt hatte, fragte ich ihn, wann im Februar oder März er Zeit hätte, mich zu prüfen. Meinecke sagte: »Im Moment bin ich gerade frei. Wie wäre es, wenn ich Sie jetzt gleich prüfe?«

Einen Augenblick lang war ich entgeistert, aber dann fand ich es lächerlich, dem Professor, bei dem ich vier Jahre lang moderne europäische Geschichte studiert hatte, mit dem Argument zu kommen, ich brauchte weitere vier Wochen, um mich auf seine Prüfung vorzubereiten. So erklärte ich, daß es mir recht wäre, wenn er mich sogleich prüfe. Ich glaube, daß die Prüfung nicht allzu schlecht abgelaufen sein kann, denn als die Stunde vorüber war, sagte Meinecke: »Glauben Sie wirklich, daß es vier Wochen später besser gegangen wäre?«

Ich verließ Meineckes Haus in recht gehobener Stimmung. Bis dahin hatte ich geglaubt, daß ich meine Zeit in den kommenden Wochen der modernen europäischen Geschichte widmen müsse; jetzt konnte ich meine ganze Zeit darauf verwenden, mich auf die Examen in den Nebenfächern vorzubereiten, Geschichte des Mittelalters, Philosophie und Nationalökonomie.

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