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Helene Stöcker, „Die Ehe als psychologisches Problem” (1929)

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So wollen wir also die neuen Erkenntnisse moderner Biologie und Soziologie mit einer vertieften, objektiveren Geschlechterpsychologie, einer geklärten Seelenkunde, mit dem hohen Ethos schöpferischer Gestaltung unseres Lebens verbinden, um aus dem flüchtigen, vergänglichen Rausch der Sinne, aus dem Pathos der Leidenschaft eine fruchtbare Lebensgemeinschaft von Mann und Frau zu schaffen. Wir wollen über die bloße Natur zur Kultur hin, zu einer Dauergemeinschaft, wo sich alle Kräfte des Menschen, die sinnlichen, geistigen, seelischen zu einer höchsten Synthese einen.

V. Ein — für das Eheglück außerordentlich bedeutungsvoller — Punkt wird, wie mir scheint, auch oft übersehen. Je nach dem Lebensalter sind auch die Eheprobleme verschiedener Art. Die Ehediskussion des letzten Jahrzehntes erweckte oft den Eindruck, als handle es sich bei der Lösung des Sexualproblems nur um junge Menschen — um die Kämpfe der Pubertät. Es ist ein erfreulicher, entscheidender Schritt vorwärts zu menschlicher Reife und Einsicht, daß man endlich der Jugend gibt, was man ihrer gesunden sexuellen Entwicklung schuldig ist. Die Jugend wird sich die errungene Klärung gewiß nicht wieder entreißen lassen. Aber zu den Revolutionen, die wir im letzten Menschenalter erlebten: der der Jugend, der Frau, des Arbeiters, brauchen wir — gerade für die Erhöhung des menschlichen Glückes wie der menschlichen Leistungsfähigkeit — noch eine andere Revolution: die des reiferen Alters. Eine Revolution gegen eine schauerliche Konvention: die der Auferlegung des frühen sexuellen Todes, die die Menschen genau so töricht — geduldig leider zum Teil noch hinnehmen, wie sie die Auferlegung der völlig unverdienten, sinnlosen Todesstrafe — durch den Krieg z. B. — häufig noch gedankenlos sich gefallen lassen. Es gilt gegen jene der doppelten Moral verbundene Konvention zu kämpfen, die den lebendigen Menschen, besonders wenn er Frau ist, oft schon mitten im Leben für tot, für nicht mehr lebenswürdig, nicht mehr liebenswürdig erklärt. Ist wohl je versucht worden, einmal festzustellen, wieviel Lebenskraft, wieviel Lebensfreude auf diese Weise gemordet, zerstört, unmöglich gemacht — wieviel Schaffensfähigkeit durch diese Suggestion einfach zerbrochen worden ist? — Wieviel freiwillige Tode, wieviel zu frühes Hinsiechen sonst wertvoller Menschen diesem barbarischen Aberglauben zu danken ist?!

Und doch ist das Eheproblem des jungen Menschen — verhältnismäßig — einfach, leicht zu lösen. Die Jugend hat sich selbst — durch Praxis und Sitte schon fast, durch die moderne Sexualforschung, durch Kämpfer, wie Richter Lindsey, Alexandra Kollentay, und viele andere, aus unserem Arbeitskreis hier unterstützt, die „Kameradschaftsehe“, eine Art „Vorehe“ sozusagen geschaffen.

Vor dem jungen Menschen liegt das ganze Leben ausgespannt: die Lösung eines Liebes- oder Ehebandes läßt sich naturgemäß da eher ertragen als in Situationen, wo nur noch die Wanderung zum Tode vor dem Menschen liegt. Die Warnung französischer Philosophen, die Jahre der Liebe nicht ungenützt vergehen zu lassen, wird glücklicherweise schon zu einem guten Teil befolgt. Aber wir müssen die Konsequenzen der psychoanalytischen Erkenntnis noch vorurteilsloser ziehen lernen: jene epochemachende Entdeckung der Psychoanalyse, die im Grunde eine Selbstverständlichkeit ist: daß den Menschen Liebessehnsucht und Liebesfähigkeit — die ja ein Teil seines Lebensgefühls selbst sind — von der Wiege bis zum Grabe sozusagen begleiten und der Erfüllung bedürfen zum harmonischen Ausgleich seines Wesens.

Wie wir versuchen, der Jugend gerecht zu werden, so müssen wir es auch dem reiferen Menschen gegenüber. Schon haben sich viel beachtete erfreuliche Wandlungen vollzogen: nicht nur das Lebensalter, auch das Liebesalter hat sich bedeutend verlängert. Diese Entwicklung wird und muß sich weiter vollziehen in dem Grade, wie Körperpflege, Befriedigung im selbstgewählten Beruf, Zunahme der geistigen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit auch die Frau zu einer Persönlichkeit machen, die ihr Zentrum in sich trägt, die Freude und Anziehung um sich zu verbreiten weiß wie der schöpferische Mann. Diese Entwicklung hängt auch ab von dem Grade, in dem der Mann die Gesamtpersönlichkeit der Frau — nicht nur ihr Geschlecht — lieben lernt.

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Wir haben auch heute schon rings um uns Ehen, Dauerverbindungen von Mann und Frau, in denen trotz Schmerz, Enttäuschungen und vorübergehender Trübungen, wie sie sich überall einstellen mögen, doch die Liebe, von der die geschlechtliche Umarmung ein Ausdruck ist, keineswegs an eine bestimmte Altersgrenze geknüpft ist, am wenigsten an eine solche, die in der Mitte des Lebens liegt.

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