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Hugo Bettauer, „Die erotische Revolution” (1924)

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Im Wandel der Zeiten ist das Grundprinzip siegreich geblieben und es hat sich am offiziellen Verhältnis von Mann zum Weib fast nichts geändert. Nach wie vor darf nur der Mann die Frau wählen, nicht aber die Frau den Mann, nach wie vor muß sie ihre Erotik auf ihn einstellen, nach wie vor darf der Mann das ledige Mädchen zur Dirne machen, die Dirne aber keinen Anspruch auf Menschenrechte erheben, nach wie vor gibt es für den Mann eine auf Schleichwegen erreichbare freie Liebe, für die Frau aber nur Hörigkeit. Nur eines hat sich geändert und das sehr gründlich: Mit der fortschreitenden kapitalistischen Industrialisierung der Welt wurde die Frau vom Mann aus dem Harem, dem Kemenat, dem Frauenhaus, der Web-, Näh- und Kinderstube hinaus ins Leben geschleppt, in die Fabrik, die Schwitzbude, in das Kontor. Und in unausweichbarer Konsequenz in den Ballsaal, das Kaffeehaus, auf die Straße. Und in weiterer Konsequenz konnte der Frau eine scheinbare Gleichberechtigung nicht versagt werden. Eine scheinbare. Denn wenn die Frau auch reiten, Auto fahren, allein ausgehen und reisen darf, wenn man ihr gestattet Doktor und Abgeordneter zu werden, ihr erlaubt, ja sogar sie dazu zwingt, zu robotten und zu schuften wie der Mann, so bleibt sie doch seine Hörige, ist in ihren köstlichsten und lebenswichtigsten Funktionen von ihm abhängig, wird schuldbeladen und verflucht, wenn sie das Grundprinzip übertritt.

Der Frau geht es heute nicht besser, sondern schlechter als vor hundert Jahren. Damals, in ihrer Zurückgezogenheit, lernte sie sich bescheiden, reagierte als Kindergebärerin ihre Erotik ab. Heute ist sie sexuell aufgepeitscht, kann im Alkoholrausch und Nikotindunst sich stundenlang als Freie bewegen, aber nur bis zu einer eng gezogenen Grenze, einer Grenze, die der Mann aus rein egoistischen Gründen gezogen hat.

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Die Frau ist also zum Arbeitstier geworden, wie es der Mann ist. Ihre sexuelle Freiheit hat sie dadurch nicht erobert.
[ . . . ] Denn das Grundprinzip besteht zu Recht.

Oder bestand zu Recht. Denn die erotische Revolution ist im Gange, läßt sich trotz aller Vogelstrauß-Politik nicht aufhalten. Seit zwei, drei Jahren beginnen sich alle erotischen Begriffe umzuordnen, beginnen die Jungen an dem Grundprinzip zu rütteln. Das arbeitende, produktive Volk hat damit begonnen, legt die Axt an ein uraltes System der Heuchelei und Verlogenheit, zu dessen Errichtung der Name des Heilands mißbraucht wurde. Wer die Augen offen hält, wer nicht so mit Dummheit geschlagen ist, daß er glaubt, Ruhrbesetzung und „Broadcasting“ seien die wichtigsten Dinge der Welt, der kann sehen, wie von Tag zu Tag die erotische Revolution fortschreitet. Die erotische Revolution, die freie, glücklichere Menschen schaffen soll. Denn es ist nun einmal so und kein Mucker kann es ändern, daß alles, was ist, auf Erotik beruht, alles, was schön, gut, lieblich auf Erden, untrennbar mit Erotik verknüpft ist. Die Blume auf der Wiese, der Schmetterling, der sich über ihr schauckelt, das Singen der Vögel, das Zirpen der Grille, das Rauschen der Bäume und das Reifen der Früchte — erotisches Symbol, erotischer Zweck, erotisches Wollen. Der Habgier, der Selbstsucht, der Dummheit und Bösartigkeit von Menschen war es vorbehalten, Gott Eros zum Verbrecher zu stempeln, erotisches Spiel mit Schmutz zu besudeln.

Diese Zeitschrift, die im Zeichen der großen erotischen Revolution entsteht, will mitkämpfen, will offen über Dinge sprechen, an denen der Philister noch immer mit Scheuklappen vorübergeht, wird sich nicht fürchten, die heikelsten, zartesten Probleme des Lebens zu erörtern und wird es sich nicht nehmen lassen, offene Wunden aufzudecken, die die Menschen mit Lüge und Heuchelei verschleiern wollen.

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Quelle: Hugo Bettauer, „Die erotische Revolution“, Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik 1 (1924), S. 1-2.

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