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Otto Steinicke, „Besuch in einer Neubauwohnung” (1929)

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Ich sehe mir im Hauptzimmer auf drei Brettern an einer Wand die Bibliothek des Mannes an. Es handelt sich um einen gewerkschaftlich organisierten, politisch indifferenten Proletarier, der bis 1921 den „Unabhängigen Sozialdemokraten“ angehörte. Nach der Spaltung dieser Partei trat er weder den Kommunisten noch den alten Sozialdemokraten bei. Er betätigte sich von da ab eifriger als sonst in der Gewerkschaft und in den Sportvereinen. Eisenbahnarbeiter Müller ist 43 Jahre alt; mit seiner Frau lebt er seit seinem 22. Lebensjahre zusammen. Vier Kinder gehören zur Familie, davon ist das älteste ein Junge, 18 Jahre alt.

Zur Bibliothek dieses Gewerkschaftlers gehören etwa einhundertundfünzig Bücher, die im Laufe der Jahre zusammengespart wurden. Alle Protokolle der sozialdemokratischen Parteitage kann man darunter finden, von 1905 bis 1921. Bebels und Kautzkys Vorkriegsschriften, Rosa Luxemburgs Akkumulation des Kapitals. Eduard Bernsteins Broschüren neben Lenins „Staat und Revolution“. Von Gorki gibt es die Dramen und den Roman „Spitzel“, von Tolstoi „Krieg und Frieden“, aus der Universum-Bücherei Streuwels Bauernroman. Von Jack London findet sich ein Band „Ruf der Wildnis“. Einen breiten Raum nehmen die Schriften bürgerlicher Philosophen ein. Ernst Häckel ist vertreten, neben Kant und Nietzsche. Eine Menge neuester, typisch deutscher, kitschiger Unterhaltungsliteratur ist eingereiht. Unter den Broschüren ist alles gesammelt, was die reformistischen Gewerkschaftsführer in den letzten Jahren gegen die Kommunisten vom Stapel gelassen haben. Aber neben diesen Pamphleten stößt man auf Protokolle des R. G. I.-Kongresses, auf eine kleine Schrift von Tomski, eine Rede, die vor internationalen Arbeiterdelegierten gehalten wurde. Ich halte gerade Larissa Reißners Buch „Im Lande Hindenburgs“ in der Hand, da erscheint die Frau des Hauses mit vielen Entschuldigungen und begrüßt mich.

Um fünf Uhr nachmittags ist ihre Arbeit in der Fabrik zu Ende. Frau Müller stanzt Blechartikel; vielmehr macht sie Handgriffe dafür am fließenden Band. Eine Stunde erst nach Betriebsschluß kann sie ihre Wohnung erreichen. Als ich ihr jetzt erkläre, daß ich mir die neue Wohnung bereits allein und selbständig angesehen habe, setzen wir uns zu einer Tasse Kaffee an den Tisch. Der Mann läßt sich entschuldigen, er ist sofort in eine Gewerkschaftssitzung gerannt; man hat sich schnell nur für ein paar Worte in der Kneipe getroffen. „Sehen Sie,“ sagt Frau Müller, „das ist nun unsre neue Wohnung, freuen Sie sich mit uns, daß wir aus dem alten Loch heraus sind.“ Ich frage nach dem Mietspreis. „Neunzig Mark im Monat, das ist noch sehr billig,“ beteuert Frau Müller, „und nur weil dieser ganze Block vom Unternehmer mit kommunalen Mitteln erbaut wurde und wir schon solange vorgemerkt waren, ist man hereingekommen. Mein ganzer Lohn, viermal im Monat, geht allein drauf für die Miete. Ich bekommen 30 Pfennig pro Stunde, 9 Stunden mal 30 Pfennig! Das reicht am Ende noch nicht ganz, und unser ältester Junge muß von seinem Verdienst noch zulegen, damit wir pünktlich zahlen können. Mein Mann verdient wöchentlich im Akkord 44 Mark und 73 Pfennig. Wir kommen gerade noch so durch in der Familie und sind alle endlich sehr froh, daß wir gesund wohnen.“

Frau Müller ist dennoch unzufrieden. Sie hat viel Sorgen mit den beiden jüngsten -schulpflichtigen Kindern, die Kleidung brauchen und Lernmaterial immer neu in jedem Vierteljahr. „Extrawürste können wir uns nicht braten. Wir gehen ab und zu einmal ins Kino, einmal in die Kneipe, einmal ins Konzert. Am liebsten aber sehen wir russische Filme.“



Quelle: Otto Steinicke, „Besuch in einer Neubauwohnung“, Magazin für Alle 4, Nr. 7 (1929), S. 22-23.

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