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Prof. Schultze-Naumburg und Walter Gropius, „Wer hat Recht? Traditionelle Baukunst oder Bauen in neuen Formen” (1926)

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III.

Zweifellos ist der Kreis der Aufgaben, bei denen die bisherige Bautradition nicht mehr als alleiniger Führer dienen konnte, im Laufe des neunzehnten und besonders des zwanzigsten Jahrhunderts unabsehbar gewachsen. Zwar können Dampfschiffe, Automobile oder Flugzeuge, wie sie heute so häufig als Musterbeispiele aufgeführt werden, kaum als architektonische Aufgaben gelten, da sie mehr die Funktionen einer Maschine zum Ausdruck bringen müssen, wenn schon auch ihre Gestaltung nicht allein auf dem Wege rechnender Konstruktion, sondern als künstlerischer Prozeß angesehen werden muß. Aber ganz sicher reicht die vorhandene Überlieferung schon dann nicht mehr zu, wenn wir sie auf Bahnhofshallen, Industriewerke und mancherlei mehr anwenden wollten.

Unter dem Druck dieses neuen Bedürfnisses ist ein gänzlich neuer Seitenzweig der Baukunst entstanden oder richtiger, er ist noch im Entstehen, der dem in den letzten Jahrzehnten so mächtig gewordenen Reiche der Technik auch zu einem entsprechenden architektonischen Ausdruck verhelfen will. Die Zeiten, als man einen Schornstein mit einem korinthischen Kapitäl krönte oder ein Elektrizitätswerk in gotische Formen kleidete, sind vorbei, und man begreift kaum noch, wie man auf solche Denkfehler kommen konnte.

IV.

Genau denselben Denkfehler begeht man aber heute, wenn man versucht, unserem Wohnhaus, das auf eine sehr lange und vornehme Ahnenreihe zurücksieht, Formen aus einem ihm gänzlich fremden Funktionskreise, nämlich dem der Maschine und der Technik, aufzuzwingen. Der Mensch schafft sich beständig mehr und immer vollkommeneres Werkzeug, und je stärker der Gebrauchsvorgang dabei sinnfällig seinen Ausdruck findet, um so besser wird es sein. Nun haben aber die uralten Formen des Menschenlebens, wie sie in den häuslichen Vorgängen zum Ausdruck kommen, recht wenig Berührungspunkte mit dem, was bei der Technik geschieht, und Industrieformen oder gar Maschinen als Stimmgabel dafür herbeizuholen, ist weder besonders geistreich noch instinktiv richtig gefühlt. Essen, Trinken, Schlafen, gesellig Empfangen und wohlig Zusammensitzen sind äußerst konservative Dinge, und wenn auch bei ihnen Nation, Rasse, Kulturkreis und Entwicklungsstufe eine gewichtige Rolle spielen, so zeigen sie doch eine weit größere Stetigkeit, was sofort klar wird, wenn man sie mit der Entwicklung vergleicht, die etwa unser Verkehrswesen oder andere technische Sonderentwicklungen darbieten. Beispielsweise wird zwischen dem Vorgang beim Speisen der Menschen einer gleichen gesellschaftlichen Schicht von 1825 und 1925 kein umwälzender Unterschied sein, wohl aber in der Methode, wie er von Leipzig nach Berlin fährt. Oder die Art, wie eine Dame von Welt in jener Zeit in ihrem Salon empfing, wird von dem gleichen Vorgang von heute zwar durch allerlei Abtönungen, aber nicht durch eine Welt getrennt sein.

Ja, es besteht sogar eine allgemeine Neigung, das häusliche Leben in einen bewußten Gegensatz zu der Unruhe des öffentlichen Lebens und der Umwelt zu bringen, in die Beruf und Gewohnheit so viele Menschen tagsüber zwingt. Der Industrielle empfindet es als eine Wohltat, wenn ihn abends nichts mehr an seine Fabrik erinnert, und sogar der Wissenschaftler, auch wenn er in der Technik nicht nur einen Broterwerb, sondern ein heiß umworbenes Mysterium sieht, wird deutlich eine Grenze zwischen seinem Laboratorium und seinem Wohnzimmer zu wahren wünschen.

Selbst da, wo die Technik mit unserem häuslichen Leben in nahe Beziehung tritt, also in den Einrichtungen der Heizung, Versorgung mit Wasser und elektrischer Energie, Telephon und dergleichen, wird überall das deutliche Bestreben fühlbar, diese Dinge möglichst unsichtbar zu machen. Man will bedient sein, aber der Diener soll uns nicht mit seiner Gegenwart unbequem werden.

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