GHDI logo

Theodor Heuss, „Demokratie und Parlamentarismus, ihre Geschichte, ihre Gegner und ihre Zukunft” (1928)

Seite 3 von 4    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Man mag die Verkörperung dieser Denkart sowohl im russischen Bolschewismus, als im italienischen Faszismus finden. Auf deren geistesgeschichtlichen Zusammenhang ist ja öfters hingewiesen worden: ihre Spuren weisen zurück auf Marxens Gegenspieler in der ersten Internationale, auf Michael Bakunin, auf die „jurassische Bewegung", auf die Spielart des antiparlamentarischen französischen Syndikalismus, der aus der „action directe", dem nichtparlamentarischen Verfahren des proletarischen Klassenkampfes, ein Lehrsystem gemacht hat. Die historische Sonderlage, die Wesensart der entscheidenden Männer, läßt die Erben als die Exponenten entgegengesetzter Staats- und Wirtschaftsgesinnung erscheinen; sie sind das auch in gewissem Sinn geworden, aber man darf bei ihrer Würdigung die gemeinsame Quelle ihrer Grundanschauung nicht völlig vernachlässigen. Ob es sich um Lenin handle oder um Mussolini, so ist die politische Leistung in ihrer Einmaligkeit bedeutend genug – aber die theoretische Begleitmusik, die sie machten oder machen ließen, dürftig genug. Die propagandistisch glänzend aufgemachte Lenin-Legende mag dem Taktiker gerecht werden – sein theoretisches Schrifttum ist mehr gewandt als tief, und die Mitteilung Mussolinis, daß er eine neue Staatsidee verkörpere, nur eben rednerisches Blinklicht, das er auf seinen Weg wirft, das aber ins Wesenlose irrt, wo es nicht eben auf die Sonderlage trifft, die er im gegenwärtigen Italien geschaffen.

Die „Diktatur des Proletariats" bleibt geistig eine künstliche Konstruktion, die über den Herrschaftsbetrieb einer Parteimaschine gelegt ist, um sie zu maskieren; aber die Konstruktion ist zu durchsichtig und die Fragestellung nimmt bald die richtige Wendung: wer hat die Diktatur über das Proletariat? Das ist dann keine theoretische Angelegenheit mehr, sondern eine persönliche: wie weit Intellekt, Wille, Suggestionskraft und die Verfügung über einen militärischen Apparat als Ersatz für die Legitimität eines dynastischen Absolutismus gelten mögen. Aus Cäsar und Napoleon eine systematische Anweisung für Staatsbau und Staatslenkung machen zu wollen, ist höchstes Mißverständnis der Geschichte und der Politik; die mißglückten Napoleone, die in den Winkeln der nachrevolutionären Jahre gespenstern und langsam verstauben, sind peinliche Beweisstücke. Der Staat darf ganz gewiß nicht verkennen, was aus der Romantik der Illegitimität an Gefahren entstehen kann – wir haben ja manche Proben hinter uns. Er wird auch nicht übersehen, wie sehr die geistige Leugnung der inneren Verbindlichkeit seiner auf Mehrheit ruhenden Gesetze und Ordnungen dem notwendigen Zuwachs an freiem und sicherem Staatsgefühl abträglich ist. Das ist Sorge der Politik und der Erziehung. Aber die grundsatzmäßige Antithese zu seiner demokratischen Existenz ist schal geworden, es ist ihr die Herausstellung einer klaren Staatsidee verbindlichen Charakters nicht gelungen. Von den Fehlern und Mängeln einer schwierigen, unromantischen und illusionslosen Politik allein kann sie sich nicht zu eigener Kraft sättigen.

Als die Demokratie in die Geschichte dieser Epoche eintrat, meldete sie, mit der Fiktion des „natürlichen" Rechts, den Anspruch der Beherrschten auf Teilnahme an der Herrschaftsübung, auf deren Besitz. Die Problematik der inneren Staatsgestaltung schien ihr wesentliches Thema zu sein. Der Gang der Dinge hat das Schwergewicht bald genug verschoben. Nun heischte nicht mehr die Sicherung von menschlichen Individualrechten, die summiert ein Kolletivrecht ergeben würden, eine Antwort, sondern die Kollektivität stellte sich selber als ein größeres und umfassendes Individualrecht dar: in den Kämpfen der Demokratie um ihre staatliche Geltung wurde die politische Nation geboren. Sie ist ohne die Demokratie schlechthin undenkbar. Volk, Völker hat es immer gegeben, aber die Demokratie hat ihnen den Mund geöffnet, daß sie das Wesen ihres politischen Bewußtseins finden und formen konnten. Der Gedanke des Nationalstaates wuchs aus ihr hervor – er war das große Leitmotiv der europäischen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite