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Theodor Heuss, „Demokratie und Parlamentarismus, ihre Geschichte, ihre Gegner und ihre Zukunft” (1928)

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Der Schwerpunkt liegt nach wie vor auf der ideenpolitischen Seite. Die Parteien sind auf Überzeugung und Werbung beruhende Kampforgane der Gesellschaft, mit fließenden Grenzen, in ihrer Macht wechselnden Konjunkturen unterworfen, durch rein taktische, nicht aus der Sache selber hervortretende Tendenzen oft genug bestimmt, ein Element des Labilen. Würde nicht Gesetzgebung und Gewaltenzuteilung stabiler sein, wenn das öffentliche Wesen auf den gegliederten Berufsgruppen ruhte? Dann gäbe es keine Demagogie mehr, die zur Sachkenntnis nicht verpflichtet ist, dann würden nicht die „Berufspolitiker" Entscheidungen treffen, von denen sie selber sehr wenig, aber „die Wirtschaft" sehr empfindlich berührt wird; statt des machtpolitischen Niederstimmens oder Kompromisse-Suchens ergibt sich eine Synthese der sachlichen Übereinstimmung. Und in solcher Ordnung, da jeder in dem ihm gemäßen, zugewiesenen, eigentümlichen Kreise gleich ist, verwirklicht sich hier die „wahre Demokratie". Die Darstellung des gestuften Berufsstaates gehört zu den rührenden Vereinfachungen spekulativen Denkens – aber ist das nicht eine Verkennung? Steckt hinter dem Ideengang nicht ein sehr realistischer Bestand von Wirtschaftsorganisationen, Verbänden, Bünden, Gewerkschaften, handelt es sich nicht bloß darum, eine gegebene Macht- und Interessenlage zu legitimisieren, daß sie das Gerüst des Staates werde?

Gewiß, diese Machttatsachen sind vorhanden; aber eben weil es sich um Macht dreht, zerbricht das Bild, auf dem die Ordnung und das Verfahren so sauber gezeichnet sind. Es gibt gar nicht den Schlüssel, der die Wirtschaftsgruppen in einem gemäßen Ziffernverhältnis ausdrücken könnte. Und heute sieht fast jedermann ein, daß „Sachverständiger" in den meisten Fällen eine liebenswürdige Umschreibung für „Interessent" ist – damit soll gar nichts gegen diesen und sein Recht gesagt sein, sondern nur gegen die Verkennung des Staates, ihn zum Kampfplatz der Interessenten zu erklären. Man stelle sich nur einen Augenblick eine Außen- und eine Kulturpolitik vor, die auf solcher Basis der staatlichen Ordnung getrieben werden sollte – sie müßte zerrieben werden. Wir wollen gar nicht von der soziologischen Kompliziertheit des heutigen Gesellschaftsbaues reden, von der auch bei solcher Lösung unentrinnbaren Tatsache, daß sie einen neuen, völlig abhängigen Typus von „Berufspolitikern" erzeugen müßte. Die Konstruktion übersieht, daß das politische Leben nun nicht in einer Statik der Berufe eingeordnet ruht, sondern in der Dynamik eines vielfältigen, bunten, wechselnden, auch widerspruchsvollen Willens schwingt.

Aus einer anderen Ecke kam und kommt der rein politisch formierte Widerstand gegen die Ideen- und Tatsachenwelt der Demokratie. Er wendet sich gegen das „Recht" der Mehrheit; geschichtliche Entscheidungen sind immer nur, das ist der ideologische Ausgang, das Werk von Minderheiten gewesen, die wußten, was sie wollten, die nicht redeten, überredeten, verhandelten und abstimmten, sondern taten, was sie für recht und notwendig hielten. Dieser Betrachtung sind Demokratie und Parlament entweder Sentimentalitäten oder Fälschungen, die durch den Erfolg des anderen Wegs in Unrecht zu setzen erlaubt sein muß. Was heißt überdies: erlaubt? Die moralische Rückfrage ist vielleicht Sache des kommentierenden Publizisten, des räsonnierenden Historikers, aber keine Sache des Handelnden. Wenn der es auch für ein technisches Erfordernis halten mag, moralische Flaggenzeichen emporwimpeln zu lassen!

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