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Arnold Brecht über die letzten Kriegswochen (Rückblick 1966)

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In diesen Tagen traf die dritte Note Wilsons ein. [ . . . ] Die Note endete mit längeren Ausführungen, in denen der Präsident nochmals Zweifel über die inneren Machtverhältnisse in Deutschland äußerte.

Infolge dieser Note stand von meinem Eintritt in die Reichskanzlei an die Frage der Abdankung des Kaisers in Mittelpunkt der Überlegungen.

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Am 28. Oktober wurde die mit Einwilligung des Kaisers eingebrachte Novelle zur Verfassung verkündigt, die in wenigen Zeilen das ganze bisherige Verfassungssystem radikal veränderte. Der Reichskanzler sollte hinfort nicht mehr vom Kaiser allein ohne Mitwirkung des Reichstages ernannt werden, sondern des Vertrauens des Reichstages bedürfen und durch ihn gestürzt werden können. Das gleiche sollte für den preußischen Kriegsminister gelten, da das Reich keinen eigenen Kriegsminister hatte, sondern die Geschäfte durch den preußischen Kriegsminister führte.

Mit dieser Novelle wurde das Reich verfassungsmäßig von einer halb autoritären Monarchie zu einer parlamentarischen Demokratie mit monarchischer Spitze. Hätte die Verfassung diese Form schon vor dem Ausbruch des Krieges gehabt, so wäre die Vereinheitlichung der Führung des Reiches in militärischen und zivilen Angelegenheiten des Reichs in Deutschland ebenso möglich und wahrscheinlich gewesen wie in England und Frankreich. Aber weder das Ausland noch das durch den plötzlichen Zusammenbruch bis in die tiefsten Tiefen aufgeregte deutsche Volk erkannte in dieser Textänderung juristischer Art das fast revolutionäre Ereignis, das sie tatsächlich bedeutete. Ein sichtbarer Ausdruck der Änderung war notwendig geworden. Wilson hatte das in seiner letzten Note angedeutet; in weiten Kreisen des Volkes wurden die Forderungen nach Abdankung des Kaisers direkt oder verschleiert erhoben.

Damals entstand der Plan, der zunächst vorsichtig in engsten Kreisen erwogen wurde, dann aber im Laufe der nächsten zwei Wochen immer mehr Anhänger gewann: daß Kaiser und Kronprinz zugunsten des zwölfjährigen ältesten Sohnes des Kronprinzen, des Prinzen Wilhelm, freiwillig abdanken und bis zur Volljährigkeit des Prinzen, also auf sechs Jahre (achtzehn war das regierungsfähige Alter nach dem Hausrecht der Hohenzollern), ein Regent oder Reichsverweser die Regierung führen solle. Innerhalb dieser sechs Jahre konnte die Praxis der Demokratie lebendige Wirklichkeit werden, ohne daß deshalb die Staatsform der Monarchie, an die man gewohnt war, aufgegeben zu werden brauchte.



Quelle: Arnold Brecht, Aus nächster Nähe, Lebenserinnerungen 1884-1927. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1966, S. 154-62.

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