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Die Ära Schröder: Fortschritte in der Innenpolitik aber außenpolitische Zweifel (17. November 2005)

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In der Europapolitik gehört Schröder zu den Schwächsten

In der Europapolitik gehört auch Schröder zu den Schwächsten, die seit Schumann und Adenauer am Projekt der europäischen Einheit tätig gewesen sind. In seiner Zeit konnte zwar der Beitritt von zehn neuen EU-Mitgliedern vollendet werden, doch fehlt es weiterhin an den institutionellen und finanziellen Voraussetzungen für die Funktionstüchtigkeit der EU insgesamt.

Die Reform der Finanzen scheiterte genauso wie der Verfassungsvertrag, von der unsäglichen Agrarpolitik ganz zu schweigen. Vor allem aber wurde die Aufnahmefähigkeit der EU durch das von Schröder entschieden avisierte Ziel einer Mitgliedschaft der Türkei prinzipiell infrage gestellt. Zum einen kann die EU 10, 15 Jahre nach der Osterweiterung einen kleinasiatischen Großstaat mit 90 Millionen Muslimen nur unter der Gefahr des inneren Zerbrechens aufnehmen. Zum anderen, wichtiger noch, sollte die EU endlich zu Europas historischen Grenzen stehen, mithin nichteuropäische Staaten wie die Türkei, die Ukraine oder Marokko nicht als Vollmitglieder aufnehmen, sondern auf andere Weise so pfleglich wie möglich behandeln. Am Widerstand gegen diese Überforderung aller europäischen Ressourcen, pointiert gesagt: wegen des Verrats des genuinen europäischen Projekts und der europäischen Identität ist der Verfassungsvertrag in einigen Ländern gescheitert, während in anderen die demoskopischen Umfragen eine stabile Zweidrittelmehrheit gegen diese Erweiterung ergaben.


Die Türkei in die EU? Ein Fall von wilhelminischer Großmannssucht

Um gegen solche Opposition die rot-grüne Türkeipolitik zu rechtfertigen, erfand Schröder, wortreich unterstützt von Außenminister Fischer und Erweiterungskommissar Verheugen, eine durch keine innerdeutsche Diskussion, keine Brüsseler Absprache legitimierte neuartige »Finalität« der EU. Bisher hatte diese Zielvorstellung daraus bestanden, für die Wirtschafts- und Rechtseinheit, auf lange Sicht auch für die politische Aktionseinheit Europas einzutreten. Jetzt aber sollte die EU durch den türkischen Beitritt angeblich zur Weltmacht mit einer Basis vom Nordkap bis Kurdistan aufsteigen. Das war ein klassischer Anfall von wilhelminischer Großmannssucht, deren Vokabular allenthalben an das Schwadronieren von 1914 erinnerte. In ähnlicher Weise trat sie dann zutage in dem von Anfang an wegen der internationalen Kräftekonstellation zum Scheitern verurteilten Streben nach dem Schleudersitz im UN-Sicherheitsrat, von dem sich fern zu halten doch die elementare politische Vernunft gebot.

Die EU-Verhandlungen mit der Türkei, wird der Zeithistoriker 2009 schließen können, haben nach quälenden Diskussionen nicht zum Ziel der »Weltmacht neuen Typs« geführt. Die Türkei hat sich im Zeichen ihrer Reislamisierung nicht so schnell wie erwartet europäisieren können und wollen, stattdessen setzten sich die kemalistischen Eliten mit ihrem Autonomieanspruch erneut durch. Insofern endete Schröders spektakulärster Schachzug in Europa mit der Niederlage einer maßlosen Expansionspolitik. Nach vergeudeter Zeit heißt es: Ade Weltmacht neuen Typs, voran aber mit der Integration Europas. Bilanziert man die Innen- und Außenpolitik, ist eine erfolgreich gestaltete Ära Schröder, die diesen Namen verdient, nicht zu erkennen. Was bleibt, ist seine bedeutende Rolle als Impulsgeber für den Beginn innerer Reformen.

Hans-Ulrich Wehler ist einer der renommiertesten deutschen Historiker. Von 1971 bis 1996 war er Professor für Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Bielefeld



Quelle: Hans-Ulrich Wehler, „Was bleibt von Schröder?“, Die Zeit, 17. November 2005.

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