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Das neue Deutschland (9. Juli 2009)

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Die DDR, die für den Modernisierungsfuror der BRD stets zu klamm war, wirkt so im Rückblick wie eine heilsame Mumifizierung: Hier blieb erhalten, was die westliche Moderne fortschrittswütig nicht dulden wollte. Und dann ging die DDR zum Glück gerade noch rechtzeitig unter, damit die alte Bausubstanz von den Transfers des Aufbaus Ost wieder zu neuem Leben erweckt werden konnte. Seither reist der geschichtsbewusste, gesamtdeutsche Patriot lieber nach Stralsund als nach Pforzheim, lieber nach Görlitz als nach Stuttgart. Weshalb die Redeweise von den »neuen Ländern« fast grotesk wirkt: Verglichen mit Nordrhein-Westfalen ist Sachsen ein Musterbeispiel an Altehrwürdigkeit.

Überhaupt bilden sich völlig neue Koalitionen, die quer stehen zur alten Ost-West-Opposition. Diese neuen Allianzen haben, wenn nicht alles trügt, etwas mit dem bereits erwähnten Museumscharakter der DDR zu tun, und zwar in einem sehr grundlegenden Sinn. Deutschland hat mit der Wiedervereinigung an historischer Tiefe gewonnen. Die Überbleibsel der DDR wirken oft, als wäre man auf einer Zeitreise in ein Deutschland vor 1933. Es ist dabei ein Anachronismus am Werk, für den die vergangenheitsselige Gegenwart sehr empfänglich ist.

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Kurzum: Das neue Deutschland schließt in mancherlei Hinsicht freudig an kulturelle Traditionen an, die in der DDR viel lebendiger geblieben sind als im Westen.

Die Generation Berlin verbringt ihre Wochenenden längst auf den Spuren der alten DDR-Boheme in den Datschen Brandenburgs – als Botho Strauß sich, bereits in den frühen neunziger Jahren, ein Haus in der Uckermark baute, war er auch darin konservative Avantgarde.

Es ist dies natürlich eine zwiespältige Bewegung: Gerade mit Blick auf Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern könnte man zugespitzt von einer Refeudalisierung sprechen, die Züge kolonialer Landnahme trägt: Zwischen Müritz und Oder ertönen wieder Freilichtkonzerte in herausgeputzten Herrenschlossparks, zu denen durch Einladungskarten mit Fontane-Zitat gebeten wurde…Ingo Schulze hat in seinem Roman Neue Leben diese Tendenz sehr bissig auf den Punkt gebracht, indem er im Altenburg des Jahres 1990 einen höchst windigen Operetten-Aristokraten als Aufbauhelfer Ost auftreten lässt, der die ganze Zeit wie Johannes der Täufer die rettende Ankunft des Erbprinzen den erwartungsvollen Altenburgern verheißt.

Doch der sensibelste gesellschaftliche Seismograf ist stets die Schulwahl. Auch hier gibt es interessante gesellschaftlich-chemische Reaktionen, wo fremde Elemente überraschend neue Verbindungen eingehen: In Berlin kann man beobachten, wie die Karriere-Bourgeoisie West ihre Kinder, wenn bei den Jesuiten kein Platz mehr frei ist, nach Pankow auf die ehemalige Kaderschule Ost schickt: Hauptsache, Disziplin und Leistungsethos (dafür nimmt man dann in Kauf, dass die Kleinen sehr eigenwillige Geschichtsstunden zu hören kriegen…).

Und ein weiteres eminentes Zeichen für die neuen Allianzen war die bemerkenswerte Debatte über die Umgestaltung von Richard Paulicks Staatsoper unter den Linden in Berlin 2008, weil hier erstmals im Zeichen des sozialistischen Klassizismus PDS und CDU unter einem Banner kämpften – was beiden Seiten keineswegs nur geheuer war.

Sind alle diese Beispiele lediglich kultureller Überbau? Vielleicht. Aber dessen Wirkungsmacht sollte man nicht unterschätzen. Das Deutschland des Jahres 2009 unterscheidet sich nämlich in vielen Aspekten längst mehr von Nord nach Süd als von Ost nach West. Welch glückliches Land, das so kraftvoll durcheinandergeschüttelt worden ist!



Quelle: Ijoma Mangold, „Seid stolz auf eure Vorurteile“, Die Zeit, Nr. 29, 9. Juli 2009, S. 49.

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