GHDI logo

EU-Ratspräsidentschaft (29. November 2006)

Seite 2 von 2    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Selbstverständliche Voraussetzungen

Wirtschaftliche Dynamik und internationale Wettbewerbsfähigkeit sind selbstverständliche Voraussetzungen für die Zukunftsfähigkeit Europas. Nur wenn Europa auch wirtschaftlich erfolgreich ist, wird es seine Werte behaupten und dafür werben können. Vieles hierbei ist Aufgabe der Mitgliedstaaten und soll es auch bleiben. Aber wenn sich alle Regierungen auf nötige Strukturreformen für mehr Wachstum und Beschäftigung verpflichten, führt dies zu einer sich verstärkenden wirtschaftlichen Dynamik in ganz Europa. Die aktuellen Daten zu Haushaltslage und Wachstum in Deutschland zeigen: Wir sind auf dem richtigen Weg. Diese positiven Entwicklungen müssen wir stabilisieren und ausbauen.

Im Zentrum unserer Arbeit in der EU sollen Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung stehen, die schrittweise Vollendung des Binnenmarktes, die Ausrichtung der Forschungsförderung auf Exzellenz sowie eine Zusammenarbeit im Bereich der Energiepolitik, um das Gewicht Europas in Gesprächen mit Förder- und Verbraucherländern gebündelt und wirkungsvoll zur Geltung zu bringen.

Wir müssen dafür sorgen, dass Europa auch mit bald siebenundzwanzig Mitgliedstaaten in einer sich in rasantem Tempo verändernden Welt bestehen kann. Dies wird nur gelingen, wenn wir zunächst das Fundament des europäischen Hauses festigen, bevor wir weitere Stockwerke hinzufügen. Sonst besteht die Gefahr, dass am Ende das ganze Gebäude ins Wanken gerät. An meiner Haltung zum Verfassungsvertrag hat sich daher nichts geändert. Wir brauchen einen neuen Vertrag. Ein solcher Verfassungsvertrag enthält wichtige institutionelle Neuerungen. Er schafft einen verbesserten Grundrechteschutz als Ausdruck unserer europäischen Werteordnung. Er begründet eine klarere Kompetenzordnung und stärkt die Rolle der nationalen Parlamente. Er bringt Europa in der Justiz- und Innenpolitik voran, ebenso in der Außenpolitik und hier vor allem durch die Schaffung des Amtes eines europäischen Außenministers. Wir nehmen deshalb den Auftrag des Europäischen Rates vom Juni 2006, während unserer Präsidentschaft auszuloten, wie wir in dieser Frage weiterkommen können, sehr ernst. Aufgrund intensiver Konsultationen mit allen Partnern werden wir am Ende entscheiden können, was möglich ist und was nicht. Bis dieser Zeitpunkt gekommen ist, ist von uns vor allem Mut zur Zurückhaltung gefragt. Jede öffentliche Vorfestlegung wird eine Einigung nur schwerer als nötig machen.

Keine neuen Zusagen

Zweifellos ist auch bei der Beantwortung der Frage künftiger EU-Erweiterungen Zurückhaltung geboten. Die Frage der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union wird uns besonders beim Europäischen Rat im Dezember intensiv beschäftigen. Meine Linie dabei ist klar: Wir werden die gegebenen Zusagen halten, aber für konkrete neue Beitrittsperspektiven auf absehbare Zeit keine neuen Zusagen machen können. Automatismen wird es künftig nicht mehr geben. Nur wenn die Bedingungen voll erfüllt werden, kann ein Beitritts- oder Annäherungsprozess an die Europäische Union vorangehen. Nur ein politisch so gestalteter Erweiterungsprozess wird von den Bürgerinnen und Bürgern mitgetragen.

Wir haben ein großes Interesse an politisch stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen Nachbarn. Der Weg dahin kann sicher nicht allein der Beitritt zur Europäischen Union oder die Aussicht darauf sein. Daher müssen wir eine ernsthafte und überzeugende Nachbarschaftspolitik entwickeln. Sie muss Länder in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in ihren Reformbemühungen unterstützen, ohne falsche Versprechungen zu machen. Hierbei sind vielfältige maßgeschneiderte Formen der Kooperation denkbar.

Wenn wir die Globalisierung nach unseren europäischen Wertvorstellungen mitgestalten wollen, dann müssen wir unser Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen – sei es bei den Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation, beim Umweltschutz oder in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Unsere Partner erwarten zu Recht, dass Europa und die Europäer ihrem Gewicht entsprechend Verantwortung in der Welt übernehmen. Europa kann es sich nicht leisten, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Deutschland möchte nächstes Jahr dazu beitragen, die Stimme der Europäischen Union in einer immer kleiner werdenden Welt zu stärken.



Quelle: Angela Merkel, „Wertegebundene Europapolitik. Herausforderungen für die deutsche Ratspräsidentschaft“, Die politische Meinung, 51. Jg., November 2006, S. 5-7.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite