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Europa als Wertegemeinschaft (28. Dezember 2005)

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Wenn die westlichen Werte und die politische Kultur des Westens konstitutiv sind, ja konstitutiv sein müssen für ein europäisches „Wir-Gefühl“, dann ist auch klar, von welchem Punkt ab man von einer Überdehnung der Europäischen Union sprechen muß. Die EU tritt in die Phase der Überdehnung ein, wenn sie große Gebiete umfaßt, die sich der politischen Kultur des Westens noch nicht geöffnet haben und in denen es keine Ansätze für ein europäisches „Wir-Gefühl“ gibt. Ein „Wir-Gefühl“, das von Lappland bis Kurdistan reicht, ist einstweilen schwer vorstellbar. Es gibt viele Großmächte, die an Überdehnung zugrunde gegangen sind. Aber die Geschichte kennt kein Beispiel, daß eine Großmacht durch Überdehnung entstanden ist.

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Die Mitglieder der EU sind, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht, keine klassischen Nationalstaaten mehr. Sie sind postklassische Nationalstaaten, die Teile ihrer Souveränität gemeinsam ausüben oder auf Einrichtungen der Union übertragen haben. Wenn sie am Ziel der Politischen Union festhalten wollen, müssen sie wissen, was sie verbindet und zusammenhält. Parteien, Parlamente und Regierungen können die Entstehung und Festigung eines solchen Bewußtseins vorantreiben.

Die entscheidende Leistung aber muß von den Zivilgesellschaften und namentlich von den Intellektuellen erbracht werden. Nur wenn Politik und Gesellschaft sich dieser Herausforderung stellen, wird sich jenes Wort Willy Brandts vom 10. November 1989, dem Tag nach dem Fall der Berliner Mauer, bestätigen, das der ehemalige Bundeskanzler ausdrücklich nicht nur auf Deutschland, sondern auf Europa im Ganzen bezogen wissen wollte: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“

Gekürzte Fassung eines Vortrages, den der Autor am 10. November 2005 bei der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart gehalten hat.



Quelle: Heinrich August Winkler, „Überdehntes Wir-Gefühl. Als Wertegemeinschaft kann die EU nur Nationen umfassen, die sich der politischen Kultur des Westens vorbehaltlos öffnen“, Die Welt, Heft 303/2005, 28. Dezember 2005, S. 25.

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