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Europa als Wertegemeinschaft (28. Dezember 2005)

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Die acht ostmitteleuropäischen Staaten, die bis zur Epochenwende von 1989/91 kommunistisch regiert wurden und seit dem 1. Mai 2004 Mitglieder der EU sind, gehören ausnahmslos zum historischen Westen. Die Spaltung Europas im Jahre 1945, für die der Name Jalta steht, war eine Teilung gegen die Geschichte. Deswegen hat keines der neuen Mitglieder der EU ein grundsätzliches Problem mit dem Bekenntnis zur politischen Kultur des Westens.

Aus dieser Feststellung folgt nicht, daß europäische Länder, die nicht zum historischen Okzident gehören, keine Mitglieder der EU werden können. Seit 1981 ist das orthodoxe Griechenland Mitglied der Europäischen Union. Seine Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens begann im 19. Jahrhundert. Zwei andere orthodox geprägte Länder, Bulgarien und Rumänien, sollen der EU im Jahr 2007 beitreten. Aber die Frage bleibt, ob die EU bei den bisherigen Verhandlungen mit Bewerberländern die politischen Beitrittskriterien von Kopenhagen aus dem Jahr 1993 nicht allzu technokratisch und positivistisch interpretiert und die Fragen der politischen Kultur darüber vernachlässigt hat.

Das gilt auch im Hinblick auf die umstrittenste Beitrittsbewerbung, die türkische. Den Streit gäbe es gar nicht, wenn sich die Türkei der politischen Kultur des Westens vorbehaltlos geöffnet hätte. Dann wäre der geographische Einwand, das Land liege überwiegend in Asien, belanglos. Tatsächlich gibt es eine Teilverwestlichung der Türkei, und zwar im geographischen und politischen Sinn. Zum wirtschaftlichen und kulturellen West-Ost-Gefälle kommt die Tatsache, daß die Türkei zwar westliche Gesetzbücher in großer Zahl übernommen hat, aber nach wie vor große Probleme hat mit der Aneignung dessen, was wir seit Montesquieu den „Geist der Gesetze“ nennen. Die hartnäckige Leugnung des Völkermordes an den Armeniern ist mit der politischen Kultur des Westens nicht zu vereinbaren. Die Europäische Kommission und der Europäische Rat, also die Regierungen der Mitgliedstaaten, haben diesen Punkt (anders als viele nationale Parlamente und das Europäische Parlament) bis heute systematisch ausgeblendet. In den Beitrittsverhandlungen wird der Umgang mit dem Genozid an den Armeniern zur Sprache kommen – müssen.

Ob am Ende des langwierigen Verhandlungsprozesses der EU-Beitritt der Türkei steht, ist ungewiß. Ein Fehlschlag wäre für alle Beteiligten ein Debakel. Aus ebendiesem Grund sollte früher oder später mit dem Nachdenken über konstruktive Alternativen zur Vollmitgliedschaft begonnen werden. „Privilegierte Partnerschaft“ ist der Begriff, den ich hierfür am 7. November 2002 in einem Artikel für Die Zeit vorgeschlagen habe. Sollten die Verhandlungen oder der Ratifizierungsprozeß scheitern, darf das Ergebnis jedenfalls nicht der Bruch zwischen Europa und der Türkei sein.

Das Projekt Europa hat ein normatives und historisches Fundament: Es sind die westlichen Werte und die politische Kultur, die sich aus ihnen entwickelt hat. Daraus folgt, daß die Europäische Union ihre Identität nicht gegen ein Land herausformen kann, das die politische Kultur des Westens so entscheidend mitgeprägt hat wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Über die Auslegung der westlichen Werte wird es zwischen Europa und Amerika immer wieder Streit geben, über die aktuelle Politik der Regierungen diesseits und jenseits des Atlantiks erst recht. Aber es genügt ein Blick auf nichtwestliche Gesellschaften, um zu der Erkenntnis zu gelangen, daß die Gemeinsamkeiten zwischen Amerika und Europa die Unterschiede bei weitem überwiegen.

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