GHDI logo

Die EU in der Krise (2. Juni 2005)

Seite 2 von 2    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Erweitern und vertiefen hieß die europäische Losung der neunziger Jahre. Beides gleichzeitig aber geht nicht. Doch statt mit inneren Reformen alle EU-Staaten für den weltweiten Konkurrenzkampf so zu kräftigen, dass man unbeschwert weitere Mitglieder hätte aufnehmen können, erweiterten sich die »happy 15« um zehn neue Staaten und verpatzten die Vertiefung. Das Ergebnis ist eine dreifache Krise: der verschärfte äußere Wettbewerb mit den USA und Asien; die innere Konkurrenz mit den neuen osteuropäischen EU-Ländern; das Siechtum der alten Wohlfahrtsstaaten wegen riesiger Haushaltslöcher und sinkender Kinderzahlen.

Hautnah erleiden die Bürger inzwischen die Folgen der vielen Ungleichzeitigkeiten Europas. Da drängen Polen, Slowaken und Balten auf unseren Arbeitsmarkt, doch alten EU-Staaten wie Deutschland, Frankreich und Holland gelingt es nicht einmal, ihre seit langem ansässigen Minderheiten aus Nordafrika und der Türkei zu integrieren. Da will die EU vielleicht sogar die Türkei aufnehmen, aber in Berlin, Amsterdam und Marseille tobt heftiger Streit darüber, ob muslimische Einwanderer überhaupt willens und in der Lage sind, die Werte der Europäischen Union anzuerkennen und im Alltag zu leben.

Eine weitere Ungleichzeitigkeit: Nicht nur China und Indien bedrängen die guten alten Wohlfahrtsstaaten. Auf einmal steigen in den Ring Konkurrenten aus Polen, Lettland, Ungarn und Tschechien, die zugleich erleben, wie sich westliche Konzerne in ihrer Heimat breit machen. Lieb gewonnene Sicherheiten schwinden, soziale Standards erodieren, der polnische Klempner wird zur Bedrohung der securité sociale und der eigenen kleinen geschützten Welt. Europa ist kein Bollwerk gegen die Globalisierung draußen. Im Gegenteil, es erlebt in seinem Innern selbst eine kleine Globalisierung. Auf diese Härten haben die Regierungschefs ihre Bürger nicht eingestimmt. Nie haben sie öffentlich eingestanden, dass ein gemeinsamer Sozialstaat eine Schimäre ist.

Europa ist ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, lautet das große EU-Versprechen. Doch die Leute befürchten, dieses Europa könnte für sie zu einem Raum der Unsicherheit werden, mit polnischen Dumpinglöhnen und der Gefahr, Straftaten eines Tages vielleicht in estnischen oder rumänischen Gefängnissen verbüßen zu müssen. Die Ängste »da unten« lassen sich »da oben« nicht einfach wegwischen. Wem also die EU wichtig, lieb und teuer ist, der sagt auf dem Gipfel Mitte Juni nicht einfach: Weiter so! Natürlich wird es kompliziert, 25 EU-Staaten ohne eine Verfassung in die Zukunft zu lenken. Die Union braucht einen neuen Mechanismus, um zu funktionieren. Deshalb kommt die Verfassung vielleicht eines Tages doch, allerdings in veränderter, schlankerer Form.

Vordringlich aber ist gegenwärtig etwas ganz anderes: die Bürger für Europa zurückzugewinnen. Indem man ihnen zum Beispiel sagt, wo fälschlicherweise Hoffnungen auf der EU ruhen, die nur der Nationalstaat erfüllen kann – und wo die Grenzen Europas liegen, inhaltlich und geografisch. Indem man sich dazu bekennt, dass die nächste Erweiterung um Rumänien und Bulgarien zwar beschlossene Sache ist, aber eben nicht automatisch bis 2007 oder 2008 erfolgt. Und ob die Türkei zur EU gehören kann, sollte, wenn überhaupt, eine Frage für überüberübermorgen sein.

Mehr denn je wird man sich an eine Europäische Union gewöhnen müssen, in der sich die Staaten mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit fortbewegen, mal allein, mal in kleinen Gruppen. Unmöglich können alle 25 dauerhaft dasselbe Tempo halten. Das Europa der 25 wird zwangsläufig ein Bund offener Staaten sein – und eine Gemeinschaft der Bürger, auf die ihre Eliten größere Rücksicht nehmen müssen. Für diese Weichenstellung braucht man einsichtige, tatkräftige Staatschefs. Schröder, Chirac, Blair und Berlusconi fehlt dafür die Kraft.



Quelle: Martin Klingst, „Wer auf das Volk nicht hört. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, das nein zur europäischen Verfassung kleinzureden“, Die Zeit, Nr. 23, 2. Juni 2005.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite