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Europa und die USA (31. Mai 2003)

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Die Konstellation, die es den begünstigten Westeuropäern im Schatten des Kalten Krieges erlaubt hat, eine solche Mentalität zu entwickeln, ist seit 1989/90 zerfallen. Der 15. Februar zeigt aber, daß die Mentalität selbst ihren Entstehungskontext überlebt hat. Das erklärt auch, warum sich das „alte Europa“ durch die forsche Hegemonialpolitik der verbündeten Supermacht herausgefordert sieht. Und warum so viele in Europa, die den Sturz Saddams als Befreiung begrüßen, den völkerrechtswidrigen Charakter der einseitigen, präventiven, ebenso verwirrend wie unzureichend begründeten Invasion ablehnen. Allein wie stabil ist diese Mentalität? Hat sie Wurzeln in tiefer reichenden historischen Erfahrungen und Traditionen?

Heute wissen wir, daß viele politische Traditionen, die im Scheine ihrer Naturwüchsigkeit Autorität heischen, „erfunden“ worden sind. Demgegenüber hätte eine europäische Identität, die im Licht der Öffentlichkeit geboren würde, etwas Konstruiertes von Anfang an. Aber nur ein aus Willkür Konstruiertes trüge den Makel der Beliebigkeit. Der politisch-ethische Wille, der sich in der Hermeneutik von Selbstverständigungsprozessen zur Geltung bringt, ist nicht Willkür. Die Unterscheidung zwischen dem Erbe, das wir antreten, und dem, welches wir zurückweisen wollen, verlangt ebensoviel Umsicht wie die Entscheidung über die Lesart, in der wir es uns aneignen. Historische Erfahrungen kandidieren nur für eine bewußte Aneignung, ohne die sie eine identitätsbildende Kraft nicht erlangen.

Zum Schluß einige Stichworte zu solchen „Kandidaten“, in deren Licht die europäische Nachkriegsmentalität ein schärferes Profil gewinnen könnte. Das Verhältnis von Staat und Kirche hat sich im modernen Europa diesseits und jenseits der Pyrenäen, nördlich und südlich der Alpen, westlich und östlich des Rheins anders entwickelt. Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt hat in verschiedenen europäischen Ländern eine jeweils andere rechtliche Gestalt angenommen. Aber innerhalb der zivilen Gesellschaft nimmt die Religion überall eine ähnlich unpolitische Stellung ein. Auch wenn man diese gesellschaftliche Privatisierung des Glaubens unter anderen Aspekten bedauern mag, hat sie für die politische Kultur eine wünschenswerte Konsequenz. In unseren Breiten ist ein Präsident, der seine täglichen Amtsgeschäfte mit öffentlichem Gebet beginnt und seine folgenreichen politischen Entscheidungen mit einer göttlichen Mission in Verbindung bringt, schwer vorstellbar.

Die Emanzipation der Bürgergesellschaft aus der Vormundschaft eines absolutistischen Regimes war nicht überall in Europa mit der Inbesitznahme und der demokratischen Umformung des modernen Verwaltungsstaates verflochten. Aber die ideelle Ausstrahlung der Französischen Revolution über ganz Europa erklärt unter anderem, warum hier die Politik in beiderlei Gestalt – sowohl als Medium der Freiheitssicherung wie als Organisationsmacht – positiv besetzt ist. Hingegen verband sich die Durchsetzung des Kapitalismus mit scharfen Klassengegensätzen. Diese Erinnerung verhindert eine ebenso unvoreingenommene Einschätzung des Marktes. Die verschiedene Bewertung von Politik und Markt mag die Europäer in ihrem Vertrauen auf die zivilisierende Gestaltungsmacht eines Staates bestärken, von dem sie auch die Korrektur von „Marktversagen“ erwarten.

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