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Europa und die USA (31. Mai 2003)

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Ein europaweit angezettelter Diskurs müßte freilich auf bestehende Dispositionen treffen, die auf einen stimulierenden Selbstverständigungsprozeß gewissermaßen warten. Dieser kühnen Annahme scheinen zwei Tatsachen zu widersprechen: Haben nicht die bedeutendsten historischen Errungenschaften Europas gerade durch weltweiten Erfolg ihre identitätsbildende Kraft eingebüßt? Und was soll eine Region zusammenhalten, die sich wie keine andere durch die fortbestehende Rivalität zwischen selbstbewußten Nationen auszeichnet?

Weil sich Christentum und Kapitalismus, Naturwissenschaft und Technik, römisches Recht und Code Napoléon, die bürgerlich-urbane Lebensform, Demokratie und Menschenrechte, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft über andere Kontinente ausgebreitet haben, bilden diese Errungenschaften kein proprium mehr. Die westliche, in der jüdisch-christlichen Überlieferung wurzelnde Geistesart hat gewiß charakteristische Züge. Aber auch diesen geistigen Habitus, der sich durch Individualismus, Rationalismus und Aktivismus auszeichnet, teilen die europäischen Nationen mit denen der Vereinigten Staaten, Kanadas und Australiens. Der „Westen“ als geistige Kontur umfaßt mehr als nur Europa.

Überdies besteht Europa aus Nationalstaaten, die sich polemisch gegeneinander abgrenzen. Das in Nationalsprachen, Nationalliteraturen und Nationalgeschichten ausgeprägte Nationalbewußtsein hat lange als Sprengsatz gewirkt. Freilich haben sich in Reaktion auf die Zerstörungskraft dieses Nationalismus auch Einstellungsmuster ausgebildet, die dem heutigen Europa in seiner unvergleichlichen, seiner ausladenden kulturellen Vielfalt aus der Sicht der Nichteuropäer doch ein eigenes Gesicht geben. Eine Kultur, die seit vielen Jahrhunderten durch Konflikte zwischen Stadt und Land, zwischen kirchlichen und säkularen Gewalten, durch die Konkurrenz zwischen Glauben und Wissen, den Kampf zwischen politischen Herrschaften und antagonistischen Klassen mehr als alle anderen Kulturen zerrissen worden ist, mußte unter Schmerzen lernen, wie Unterschiede kommuniziert, Gegensätze institutionalisiert und Spannungen stabilisiert werden können. Auch die Anerkennung von Differenzen – die gegenseitige Anerkennung des anderen in seiner Andersheit – kann zum Merkmal einer gemeinsamen Identität werden.

Dafür sind die sozialstaatliche Befriedung von Klassengegensätzen und die Selbstbeschränkung der staatlichen Souveränität im Rahmen der EU nur die jüngsten Beispiele. Im dritten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts hat Europa diesseits des Eisernen Vorhangs nach den Worten von Eric Hobsbawm sein „goldenes Zeitalter“ erlebt. Seit damals werden Züge einer gemeinsamen politischen Mentalität erkennbar, so daß die anderen in uns oft den Europäer eher wahrnehmen als den Deutschen oder den Franzosen – und das nicht nur in Hongkong, sondern selbst in Tel Aviv.

Es ist ja wahr: In den europäischen Gesellschaften ist die Säkularisierung verhältnismäßig weit vorangeschritten. Hier betrachten die Bürger Grenzüberschreitungen zwischen Politik und Religion eher mit Argwohn. Europäer haben ein relativ großes Vertrauen in die Organisationsleistungen und Steuerungskapazitäten des Staates, während sie gegenüber der Leistungsfähigkeit des Marktes skeptisch sind. Sie besitzen einen ausgeprägten Sinn für die „Dialektik der Aufklärung“, hegen gegenüber technischen Fortschritten keine ungebrochen optimistischen Erwartungen. Sie haben Präferenzen für die Sicherheitsgarantien des Wohlfahrtsstaates und für solidarische Regelungen. Die Schwelle der Toleranz gegenüber der Ausübung von Gewalt gegen Personen liegt vergleichsweise niedrig. Der Wunsch nach einer multilateralen und rechtlich geregelten internationalen Ordnung verbindet sich mit der Hoffnung auf eine effektive Weltinnenpolitik im Rahmen reformierter Vereinter Nationen.

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