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Europa und die USA (31. Mai 2003)

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In dieser Welt zahlt sich eine Zuspitzung der Politik auf die ebenso dumme wie kostspielige Alternative von Krieg und Frieden nicht aus. Europa muß sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren. Auf Weltwirtschaftsgipfeln und in den Institutionen der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds sollte es seinen Einfluß bei der Gestaltung des Designs einer künftigen Weltinnenpolitik zur Geltung bringen.

Die Politik eines weiteren Ausbaus der EU stößt heute allerdings an die Grenzen der Mittel administrativer Steuerung. Bisher haben die funktionalen Imperative der Herstellung eines gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsgebietes Reformen vorangetrieben. Diese Antriebskräfte sind erschöpft. Eine gestaltende Politik, die den Mitgliedstaaten nicht nur die Beseitigung von Wettbewerbshindernissen, sondern einen gemeinsamen Willen abverlangt, ist auf die Motive und die Gesinnungen der Bürger selbst angewiesen. Mehrheitsbeschlüsse über folgenreiche außenpolitische Weichenstellungen dürfen nur dann auf Akzeptanz rechnen, wenn die unterlegenen Minderheiten solidarisch sind. Das setzt aber ein Gefühl der politischen Zusammengehörigkeit voraus. Die Bevölkerungen müssen ihre nationalen Identitäten gewissermaßen „aufstocken“ und um eine europäische Dimension erweitern. Die auch heute schon ziemlich abstrakte staatsbürgerliche Solidarität, die sich auf Angehörige der eigenen Nation beschränkt, muß sich in Zukunft auf europäische Bürger anderer Nationen erstrecken.

Das bringt die Frage der „europäischen Identität“ ins Spiel. Allein das Bewußtsein eines gemeinsamen politischen Schicksals und die überzeugende Perspektive für eine gemeinsame Zukunft können überstimmte Minderheiten von der Obstruktion eines Mehrheitswillens abhalten. Grundsätzlich müssen die Bürger einer Nation die Bürgerin einer anderen Nation als „eine von uns“ betrachten. Dieses Desiderat führt zu der Frage, die so viele Skeptiker auf den Plan ruft: Gibt es historische Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften, die für europäische Bürger das Bewußtsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam zu gestaltenden politischen Schicksals stiften? Eine attraktive, ja ansteckende „Vision“ für ein künftiges Europa fällt nicht vom Himmel. Heute kann sie nur aus einem beunruhigenden Empfinden der Ratlosigkeit geboren werden. Aber sie kann aus der Bedrängnis einer Situation hervorgehen, in der wir Europäer auf uns selbst zurückgeworfen sind. Und sie muß sich in der wilden Kakophonie einer vielstimmigen Öffentlichkeit artikulieren. Wenn das Thema bisher nicht einmal auf die Agenda gelangt ist, haben wir Intellektuelle versagt.

Auf Unverbindliches kann man sich leicht einigen. Uns allen schwebt das Bild eines friedlichen, kooperativen, gegenüber anderen Kulturen geöffneten und dialogfähigen Europas vor. Wir begrüßen das Europa, das in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts exemplarische Lösungen für zwei Probleme gefunden hat. Die EU bietet sich schon heute als eine Form des „Regierens jenseits des Nationalstaates“ an, das in der postnationalen Konstellation Schule machen könnte. Auch die europäischen Wohlfahrtsregime waren lange Zeit vorbildlich. Auf der Ebene des Nationalstaates sind sie heute in die Defensive geraten. Aber hinter die Maßstäbe sozialer Gerechtigkeit, die sie gesetzt haben, darf auch eine künftige Politik der Zähmung des Kapitalismus in entgrenzten Räumen nicht zurückfallen. Warum sollte sich Europa, wenn es mit zwei Problemen dieser Größenordnung fertig geworden ist, nicht auch der weiteren Herausforderung stellen, eine kosmopolitische Ordnung auf der Basis des Völkerrechts gegen konkurrierende Entwürfe zu verteidigen und voranzubringen?

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