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Europäische Föderation (12. Mai 2000)

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Jacques Delors sowie Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing haben deshalb in jüngster Zeit versucht, auf dieses Dilemma neue Antworten zu finden. Nach den Vorstellungen von Delors soll eine „Föderation der Nationalstaaten“, bestehend aus den 6 Gründungsländern der Europäischen Gemeinschaft, einen „Vertrag im Vertrag“ schließen, mit dem Ziel einer tiefgreifenden Reform der europäischen Institutionen. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Schmidt und Giscard, die allerdings anstatt der 6 Gründungsmitglieder von den Euro-11 Staaten als Zentrum ausgehen. Bereits 1994 hatten Karl Lamers und Wolfgang Schäuble die Schaffung eines „Kerneuropa“ vorgeschlagen, das allerdings einen entscheidenden Geburtsfehler hatte, nämlich die Vorstellung eines exklusiven „Kerns“, der noch dazu das Gründungsland Italien ausschloß, anstatt eines für alle offenen Integrationsmagneten.

Wenn angesichts der unabweisbaren Herausforderung der Osterweiterung die Alternative für die EU tatsächlich Erosion oder Integration heißt und wenn das Verharren in einem Staatenverbund Stillstand mit all seinen negativen Folgen bedeuten würde, dann wird, getrieben durch den Druck der Verhältnisse und der von ihnen ausgelösten Krisen, die EU innerhalb der nächsten Dekade irgendwann vor der Alternative stehen: Springt eine Mehrheit der Mitgliedstaaten in die volle Integration und einigt sich auf einen europäischen Verfassungsvertrag zur Gründung einer Europäischen Föderation? Oder, wenn dies nicht geschieht, wird eine kleinere Gruppe von Mitgliedstaaten als Avantgarde diesen Weg vorausgehen, d.h. ein Gravitationszentrum aus einigen Staaten bilden, die aus tiefer europäischer Überzeugung heraus bereit und in der Lage sind, mit der politischen Integration voranzuschreiten? Die Fragen würden dann nur noch heißen: Wann wird der richtige Zeitpunkt sein? Wer wird teilnehmen? Und wird sich dieses Gravitationszentrum innerhalb oder außerhalb der Verträge herausbilden? Eines jedenfalls ist dabei sicher: ohne engste deutsch-französische Zusammenarbeit wird auch künftig kein europäisches Projekt gelingen.

Angesichts dieser Lage könnte man sich also weit über das nächste Jahrzehnt hinaus die weitere Entwicklung Europas in zwei oder drei Stufen vorstellen:

Zunächst dem Ausbau verstärkter Zusammenarbeit zwischen denjenigen Staaten, die enger als andere kooperieren wollen, wie dies bereits auch in der Wirtschafts- und Währungsunion und bei Schengen der Fall ist. Auf vielen Gebieten können wir hiermit vorankommen: bei der Weiterentwicklung der Euro-11 zu einer wirtschaftspolitischen Union, beim Umweltschutz, der Verbrechensbekämpfung, der Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungs- und Asylpolitik und natürlich auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Sehr wichtig dabei ist, dass verstärkte Zusammenarbeit nicht als eine Abkehr von der Integration verstanden werden darf.

Ein möglicher Zwischenschritt hin zur Vollendung der politischen Union könnte dann später die Bildung eines Gravitationszentrums sein. Eine solche Staatengruppe würde einen neuen europäischen Grundvertrag schließen, den Nukleus einer Verfassung der Föderation. Und auf der Basis dieses Grundvertrages würde sie sich eigene Institutionen geben, eine Regierung, die innerhalb der EU in möglichst vielen Fragen für die Mitglieder der Gruppe mit einer Stimme sprechen sollte, ein starkes Parlament, einen direkt gewählten Präsidenten. Ein solches Gravitationszentrum müßte die Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration sein und bereits alle Elemente der späteren Föderation umfassen.

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