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Europäische Föderation (12. Mai 2000)

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Quo vadis Europa? fragt uns daher ein weiteres Mal die Geschichte unseres Kontinents. Und die Antwort der Europäer kann aus vielerlei Gründen, wenn sie es gut mit sich und ihren Kindern meinen, nur lauten: Vorwärts bis zur Vollendung der europäischen Integration. Für einen Rückschritt oder auch nur einen Stillstand und ein Verharren beim Erreichten würde Europa, würden alle an der EU beteiligten Mitgliedstaaten und auch alle diejenigen, die Mitglied werden wollen, würden vor allem also unsere Menschen, einen fatal hohen Preis zu entrichten haben. Und dies gilt ganz besonders für Deutschland und die Deutschen.

Was vor uns liegt, wird alles andere als einfach werden und unsere ganze Kraft erfordern, denn wir werden in der nächsten Dekade die Ost- und Südosterweiterung der EU zu wesentlichen Teilen zuwege bringen müssen, die letztlich zu einer faktischen Verdoppelung der Mitgliederzahl führen wird. Und gleichzeitig, um diese historische Herausforderung bewältigen und die neuen Mitgliedstaaten integrieren zu können, ohne dabei die Handlungsfähigkeit der EU substantiell infrage zu stellen, müssen wir den letzten Baustein in das Gebäude der europäischen Integration einfügen, nämlich die politische Integration.

Die Notwendigkeit, diese beiden Prozesse parallel zu organisieren, ist die wohl größte Herausforderung, vor der die Union seit ihrer Gründung jemals gestanden hat. Aber keine Generation kann sich ihre historischen Herausforderungen aussuchen, und so ist es auch diesmal. Nichts Geringeres als das Ende des Kalten Krieges und der erzwungenen Teilung Europas stellt die EU und damit auch uns vor diese Aufgabe, und deshalb bedarf es auch heute einer ähnlich visionären Kraft und pragmatischen Durchsetzungsfähigkeit, wie sie Jean Monnet und Robert Schuman nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bewiesen haben. Und wie damals, nach dem Ende dieses letzten großen europäischen Krieges, der wie fast immer auch ein deutsch-französischer Krieg gewesen war, wird es bei diesem letzen Bauabschnitt der Europäischen Union, nämlich ihrer Osterweiterung und der Vollendung der politischen Integration, ganz entscheidend auf Frankreich und Deutschland ankommen.


Meine Damen und Herren,

zwei historische Entscheidungen haben das Schicksal Europas zur Mitte des letzten Jahrhunderts grundsätzlich zum Besseren gewendet: Erstens, die Entscheidung der USA, in Europa zu bleiben. Und zweitens, das Setzen von Frankreich und Deutschland auf das Prinzip der Integration, beginnend mit der wirtschaftlichen Verflechtung.

Mit der Idee der europäischen Integration und mit ihrer Umsetzung entstand nicht nur eine völlig neue Ordnung in Europa, genauer: in Westeuropa, sondern die europäische Geschichte kehrte sich in ihrem Verlauf fundamental um. Vergleichen Sie einmal die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dessen zweiten fünf Jahrzehnten, und Sie werden sofort verstehen, was ich meine. Gerade die deutsche Perspektive ist dabei besonders lehrreich, denn sie macht klar, was unser Land der Idee der europäischen Integration und ihrer Umsetzung tatsächlich zu verdanken hat!

Dieses fast revolutionär zu nennende neue Prinzip des europäischen Staatensystems ging von Frankreich und seinen großen Staatsmännern Robert Schuman und Jean Monnet aus. Seine schrittweise Verwirklichung von der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bis zur Schaffung des Binnenmarkts und der gemeinsamen Währung beruhte in allen Stadien seiner Entwicklung zentral auf der deutsch-französischen Interessenallianz. Diese war allerdings niemals exklusiv, sondern für andere europäische Staaten immer offen, und so sollte es bis zum Erreichen der Finalität auch bleiben.

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