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Deutschland als Mittelmacht (September/Oktober 2006)

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Zur Charakteristik einer selbstbewußten Mittelmacht gehört, daß sie sich an der Produktion kollektiver Güter aktiv beteiligt und sich weder drückt noch mit Geld von Verpflichtungen freizukaufen versucht. Eine selbstbewußte Mittelmacht ist, wer sich unter den skizzierten Umständen nicht nur für die Trittbrettfahrerposition entscheidet. Selbstbewußtsein findet seinen Ausdruck also ebenso in der Übernahme internationaler Verpflichtungen wie in der Wahrnehmung eigener Interessen. Hinter dem Vorwurf einer Militarisierung der Außenpolitik steht zumeist die Vorstellung, man solle an der Politik des Freikaufs weiter festhalten. Das aber heißt: Verzicht auf das Einbringen eigener Vorstellungen und schließlich Einwilligung in die Abhängigkeit von denen, in deren Machtportfolio auch militärische Mittel enthalten sind. Was das bedeutet, hatten die Europäer während der jugoslawischen Zerfallskriege schmerzlich feststellen müssen. Das aber wäre gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Position einer Mittelmacht und auf Selbstbewußtsein ohnehin.

Eine unabdingbare Voraussetzung für die Festigung der Position einer selbstbewußten Mittelmacht ist somit die Diversifizierung der Machtsorten, die der deutschen Politik – durchaus im Rahmen internationaler Strukturen und Verpflichtungen – zur Verfügung stehen. Dabei ist vor allem auf die ideologisch-kulturelle Macht mehr Aufmerksamkeit zu verwenden als bislang. Kern dessen ist die Positionierung Deutschlands als Kulturnation und Wissenschaftslandschaft, wobei mit Blick auf die Wissenschaft die Attraktivität deutscher Universitäten für ausländische Studenten und Wissenschaftler eine besondere Rolle spielt. Daß dabei die Studienreformen, die inzwischen unter dem Kürzel Bolognaprozeß zusammengefaßt werden, hilfreich sind, ist zu bezweifeln, insofern sie die spezifische Attraktivität Deutschlands eher vermindert als erhöht haben. In struktureller Hinsicht wird die deutsche Wissenschaftslandschaft jedoch am meisten durch die föderalistische Kleinstaaterei gefährdet, die gerade im Bereich der Bildungs- und Wissenschaftspolitik stark ausgeprägt ist. Insofern ist die Entscheidung, den Bund im Rahmen der Föderalismusreform nicht aus dem Hochschulwesen herauszudrängen, eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer stärkeren Attraktivität Deutschlands in diesem Feld. Es wird freilich darauf ankommen, daß hier nicht nur auf Probleme und Defizite reagiert, sondern auch strategisch gedacht und gehandelt wird, also daß die deutsche Politik sich der Kultur und Wissenschaft als einer Ressource im Machtportfolio bewußt ist. Das schließt nicht aus, daß beides auch ein wirtschaftlicher Standortfaktor ist.

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Quelle: Herfried Münkler, „Die selbstbewußte Mittelmacht. Außenpolitik im souveränen Staat“, Merkur, 60. Jg., Nr. 689/90 (September/Oktober 2006), S. 847 ff.

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