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Die Bundesrepublik in Mittel- und Osteuropa (17. Februar 1995)

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So wie die Zeit der Entschuldigungen und der Aufstellung von Rechnungen für die Vergangenheit enden und die Zeit einer sachlichen Debatte über sie beginnen sollte, so muß auch die Zeit der Monologe und einsamer Aufrufe enden und durch eine Zeit des Dialogs abgelöst werden. Der Dialog hat ja schon lange begonnen – unter Bürgern, lokalen Selbstverwaltungsbehörden, Historikern und sogar unter Politikern. Ich bin ein Befürworter seiner ständigen Erweiterung und Vertiefung. Es muß jedoch ein wirklicher Dialog sein. Das heißt, daß wir Informationen, Erfahrungen, Kenntnisse, Analysen, Anregungen und Programme austauschen, sie vergleichen, Einklang suchen und all das Gute in die Tat umsetzen, worauf wir uns einigen, ohne daß sich entweder der eine oder der andere – nicht einmal andeutungsweise – als Geisel des anderen oder als Geisel unserer unheilvollen Geschichte fühlt.

Mit anderen Worten, die Zeit der Konfrontation muß ein für allemal zu Ende gehen, und eine Zeit der Kooperation muß beginnen. Je eindeutiger sich die Beteiligten auf beiden Seiten zu der Idee des Bürgerstaates und der Bürgergesellschaft bekennen, desto besser wird ihre Zusammenarbeit gedeihen. Deutschland hat einen großen Vorsprung. Nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, sondern auch deshalb, weil es – wenigstens in seinem westlichen Teil – jahrelang in Freiheit leben und einen liberalen, demokratischen, auf all den zeiterprobten Werten der westlichen Zivilisation beruhenden Staat aufbauen konnte, der wahrhaft europäisch orientiert ist. Das heißt, er verfolgt das Ideal Europas als Ideal eines politischen Organismus, der sich nach dem Prinzip der Gleichheit der Großen und der Kleinen und deren gleichberechtigter Zusammenarbeit richtet, einer Zusammenarbeit in Frieden und im Sinne der gemeinsam empfundenen Achtung vor den Rechten und Freiheiten des Menschen, vor Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, den Regeln der Marktwirtschaft und der Idee der Bürgergesellschaft. In der Tschechischen Republik blieb die Zeit lange stehen; das bedeutet aber nicht, daß wir das Versäumte nicht schnell aufholen könnten, insbesondere wenn wir uns auf das Potential der positiven Traditionen aus der Vorkriegszeit stützen, die, wie man sieht, nicht einmal siebenundfünfzig Jahre ganz haben tilgen können. Die Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit sind also gegeben. Und sollten störende Töne, Stimmen oder Gefühle zum Vorschein kommen, ist es erforderlich, dagegen auf beiden Seiten viel energischer aufzutreten, als das bisher der Fall war. Auf der deutschen Seite sind es Stimmen, glücklicherweise vereinzelt und isoliert, die versuchen, die geistigen Quellen der einstigen deutschen Katastrophe zu rehabilitieren, Stimmen heimlicher Nostalgiker, die sich an den Gedanken klammern, der Nationalstaat sei der Höhepunkt menschlichen Strebens, und die sich von dem Glauben an eine besondere deutsche Sendung nicht loslösen können, welche Deutschland berechtigen soll, die anderen so zu betrachten, als sei es ihnen übergeordnet. Auf der tschechischen Seite gibt es hingegen eine seltsame, durchaus provinzielle Kombination aus Angst vor den Deutschen und Servilität ihnen gegenüber; hinzu kommt bei manchen die Unfähigkeit, sich aus der Zwangsjacke der in der Gesellschaft so lange gehegten Vorurteile zu befreien. Dann und wann scheint mir, als ob der für die Zeit unmittelbar nach dem Krieg charakteristische Gemütszustand bei uns erhalten geblieben sei und auf eine seltsame Weise durch das Gefühl ausgeglichen würde, man solle aus den Deutschen "wenigstens etwas herausholen". So begegnen wir mitunter Menschen, die ihre Umgebung – im Sinne der kommunistischen Propaganda – mit Reden über die deutsche Gefahr schrecken und gleichzeitig an ihren Häusern "Zimmer frei"-Schilder aufgehängt haben und sogar von Tschechen die Miete in D-Mark kassieren. Auf der einen Seite also wortgewaltige, von nationalistischer Verblendung und Fremdenhaß gekennzeichnete Aufrufe, auf der anderen ein totales Fehlen von elementarem Bürgerstolz.

Wieder ist es das gleiche: das Bedürfnis, den kommunistischen Kollektivismus durch einen nationalen Kollektivismus zu ersetzen, die eigene, individuelle bürgerliche Verantwortung abzuschütteln und in der Anonymität einer Meute unterzutauchen, die alle anbellt, die nicht dazu gehören, ist eine Spielart der Erscheinungen, die systematisch bekämpft gehören. Die zeitweilig auftretenden Zeichen unterbewußten Glaubens an eine unfehlbare Stimme des Blutes, des Schicksals, der Vorsehung und der Volksmythen sowie an ein Recht, das Unmögliche, das heißt eine Revision der Geschichte, die als eine Serie fortwährenden Unrechts an dem eigenen Stamm betrachtet wird, zu fordern, sie sind nur eine andere Variante desselben Irrglaubens.

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