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Gründe für die Entfremdung türkischer Jugendlicher (3. Juni 1993)

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Das starke Selbstbewußtsein der Landsleute mischt sich mit Verbitterung, Zorn und Aggression. Die Mehrheit der Türken kann die Straßenschlachten, die sich manche in den vergangenen Tagen in einigen deutschen Städten lieferten, nicht gutheißen. Gegen Gewalt sind sie alle. Aber um der Ehrlichkeit willen muß man sagen, daß sie sich auch alle ein bißchen über Autobahnblockaden und Sitzstreiks freuen. Endlich kommt ein Signal, das besagt: „Mit uns könnt ihr nicht alles machen, einmal ist Schluß!“ Darin herrscht große Übereinkunft. Und auch darin, daß die deutschen Politiker viel zu lange gezögert haben. Die kühnsten Behauptungen werden aufgestellt, daß beispielsweise der Staat absichtlich so lange gezögert hat, die Rechtsradikalen hart zu bestrafen. Daß man insgeheim auf die abschreckende Funktion der Überfälle auf potentielle Asylbewerber hoffte. Daß man gedacht hat: „Vielleicht ekeln wir damit einige Ausländer aus dem Land, so daß die Arbeitsplätze für die Ostdeutschen frei werden.“ Diese Vermutungen sind unter den Türken in Deutschland zur Zeit durchaus ein Gesprächsthema. Hier muß man auch etwas über das Verhalten von Bundeskanzler Kohl aussagen: Daß der ehrwürdige Bundespräsident heute an den Trauerfeierlichkeiten teilnimmt, ist begrüßenswert, aber die Türken hätten viel mehr begrüßt, wenn nicht der oberste Repräsentant dieses Staates, sondern der oberste aktive Politiker daran teilgenommen und ein Wort an die Türken gerichtet hätte.

Es sollte niemanden wundern, wenn ausländische Jugendliche heute ihrer Wut freien Lauf lassen. Was hat der Staat diesen jungen Menschen, die sich ihren Geburtsort nicht selbst aussuchen konnten, denn gegeben, daß er heute von ihnen Ruhe und Besonnenheit verlangt? Hat der Staat sie nicht von Anfang an zum „Problem“ abgestempelt und sie größtenteils der Obhut von Sozialarbeitern und Pädagogen überlassen? Warum wird ein hier geborener Jugendlicher türkischer Abstammung nicht automatisch eingebürgert? Warum muß er sich am frühen Morgen mit Asylbewerbern in eine Schlange vor der Ausländerbehörde stellen, um den wichtigen Stempel zu bekommen? Welche Spuren hinterlassen solche Schikanen in den Seelen junger Menschen? Warum werden sie immer noch als „Ausländer“ bezeichnet, obwohl sie keine andere Heimat mehr haben als die deutsche?

Die in der Ausweglosigkeit wurzelnde Wut der jungen Türken wird gewiß von links- und rechtsgerichteten türkischen Fanatikern ausgenutzt. Diese Gruppierungen, ein Überbleibsel der 70er Jahre, haben verschwindend geringe Mitgliederzahlen und üben sonst keinen Einfluß auf die türkische Bevölkerung in Deutschland aus. Das belegen auch die Verfassungsschutzberichte. Die Extremisten vermögen aber in solchen explosiven Zeiten junge Leute zu beeinflussen. Sprüche wie „Wir lassen uns nicht lebendig verbrennen“ kann man in diesen Tagen nicht nur auf Demonstrationen in Solingen hören, sondern auch in Berliner Kaffeehäusern. Wer sich heute über zerbrochene Scheiben empört, hätte jedoch auch am vergangenen Wochenende aus Empörung über verbrannte Menschen auf die Straße gehen müssen, um glaubwürdig zu sein.

Die Mehrheit der Türken in Deutschland will hier bleiben und in Ruhe leben. Sie hat es satt, immer mit dem Hauptwort „Problem“ in einem Atemzug genannt zu werden. Es muß endlich Schluß sein mit der Rede von der sogenannten „Ausländerproblematik“. Die „Ausländer“ haben Namen wie Ahmet und Ayse, sie haben Gesichter und individuelle Lebensläufe und sie erwarten von der deutschen Gesellschaft, daß sie sie endlich akzeptiert und ihnen die schon viel zu lange vorenthaltenen Bürgerrechte gewährt. Durch die Anerkennung der Doppelstaatsbürgerschaft, durch schnelle unbürokratische Einbürgerungen würde ein Signal gesetzt werden. Die Türken wissen mittlerweile sehr gut, daß in einer Demokratie Menschen ohne Wahlrecht nur Bürger zweiter Klasse sind. Aus dieser Recht- und Stimmlosigkeit wollen sie ausbrechen.

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