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Brandanschlag auf türkische Familien in Mölln (24. November 1992)

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In der Mühlenstraße schleppten junge Männer Decken herbei, hielten sie auf und animierten die in den oberen Stockwerken Eingeschlossenen, herunterzuspringen. Mehrere taten dies und konnten sich so retten, wenn auch teilweise nur mit Verletzungen, andere entkamen auf andere Art. Auch Kinder wurden in die Decken geworfen und entgingen so dem Verderben. „Ganz oben stand eine Frau, die schrie: Meine Kinder, die verbrennen“, berichtet der 19jährige Mustafa, der im Pyjama aus der Nachbarschaft zur Mühlenstraße Nummer neun gerannt war. Für drei Menschen – eine 51jährige Frau, ein zehnjähriges Mädchen und eine 20jährige – kam jede Hilfe zu spät. Die 51jährige Frau ist die Mutter der Großfamilie Arslan, sie wohnte seit zwei Jahrzehnten in Mölln. Das Kind, ihre Enkelin Gillis, war in der Mühlenstraße geboren und aufgewachsen, die 20jährige war zu Besuch aus der Türkei.

Unter den gut 17 000 Einwohnern Möllns leben derzeit 150 türkische Familien, rund 700 Personen. Türkische junge Männer treffen sich regelmäßig in einer Teestube in der Altstadt, so auch an diesem Montag. Mit ernsten Gesichtern sitzen sie an den Tischen, unter ihnen sind eine ganze Reihe, die in der Nacht als Helfer das grausige Geschehen miterlebt haben. Der Bürgermeister war am Vormittag in dem Lokal und hat mit den Anwesenden darüber gesprochen, was mit den nun obdachlos gewordenen Bewohnern der ausgebrannten Häuser werden solle.

Am Mittag kommt ein junger Mann gelaufen und teilt mit, daß sich in der Hauptstraße eine Demonstration formiert habe. Schüler des Berufsschulzentrums haben spontan beschlossen, den Unterricht vorzeitig zu beenden und ihren Protest kundzutun. Nicht alle machen mit, aber mehr als 200 sind es doch, die im Nieselregen schweigend durch die Stadt ziehen. „Wird sich die deutsche Geschichte wiederholen?“, steht auf einem schnell gefertigten Karton. Der Zug schwillt an auf etwa 500 Menschen, Passanten gesellen sich zu den Demonstrierenden, auch einige der zahlreich angereisten Journalisten, und auch die aus Kiel herbeigeeilte Präsidentin des schleswig-holsteinischen Landtages, Ute Erdsiek-Rave (SPD). Auch sie ist sichtlich schockiert über das Verbrechen, dessen Urheber zunächst unbekannt bleiben. Lediglich ein Nachbar des Hauses in der Ratzeburger Straße weiß zu berichten, daß er kurz vor Ausbruch des Brandes die quietschenden Reifen eines davonfahrenden Autos gehört habe.



Quelle: Klaus Brill, „Meine Kinder, die verbrennen!“, Süddeutsche Zeitung, 24. November 1992.

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