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Deutsche Urlaubsgewohnheiten (1. April 2004)

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Erinnerungsfoto mit Totenverbrennung

Es gehört zum Ritual, dass sich der Individualtourist geradezu zwanghaft vom Pauschaltouristen abgrenzt. Er selbst würde sich nie als Tourist bezeichnen, sondern reklamiert für sich den vornehmer klingenden Begriff Reisender. Bemerkt er in einem türkischen Badeort am Nachbartisch deutsche Pauschaltouristen, spricht er selbst nur noch Englisch. Und hört er von Klagen wie der des bayerischen Ehepaares, das sich von den Einheimischen in Afrika gestört fühlte, sagt er: Igitt, ist das menschenverachtend! Er selbst bringt es mit Leichtigkeit fertig, einer Totenverbrennung auf Bali beizuwohnen und dabei für ein Foto vor dem offenen Sarg mit Priester und Tänzerinnen zu posieren, auf dem die Balinesen keine Miene verziehen. Allerdings kann er sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn Rucksacktouristen aus Borneo eine Münsterländer Aussegnungshalle stürmten und die Kamera in Anschlag brächten, während der Pastor noch das Gegrüßet seist Du Maria betete. Natürlich beschimpft der deutsche Individualtourist den deutschen Pauschaltouristen, der seine Gewohnheiten um die Welt trage und sich in Hotelanlagen verbarrikadiere.

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Das von der Werbung propagierte „Bacardi-Feeling“ ist zum Beispiel eine Chimäre. Nur eine Minderheit (etwa fünf bis sechs Prozent der deutschen Urlauber) macht seit je eine Fernreise ins außereuropäische Ausland. Spanien hingegen ist seit 1986 das begehrteste ausländische Urlaubsziel der Deutschen. Allein nach Mallorca flogen 1975 bereits sieben Millionen Bundesbürger, 1995 waren es dreizehn Millionen. Für den Endverbraucher haben diese Daten vor allem einen Vorteil: Dem Individualreisenden weisen sie den Weg in Länder, in denen er die deutschen Massen meiden kann, den deutschen Massen weisen sie den Weg zu sich selbst.

Aus Angst vor Terror hinters Lenkrad

Die deutlichste Wende im Reiseverhalten der Bundesbürger zeigt sich jedoch in der Wiederentdeckung des Autos. 36 von 100 Urlaubern nutzten im vergangenen Jahr den Pkw, in der kommenden Saison will fast jede zweite Familie mit Kindern im Auto verreisen. Angst vor terroristischen Anschlägen und ökonomische Zwänge werden in der 20. Tourismusanalyse des Hamburger BAT Freizeit-Forschungsinstituts als Gründe angegeben. Und möglicherweise heißt es dann wieder wie in den fünfziger Jahren: „Ohne Autoverkehr kein Fremdenverkehr“.

Damals fuhren die Westdeutschen vorzugsweise an den Gardasee, aus dem Radio schepperte Lili Marleen. Die Campingplätze waren Massenlager, von Stacheldraht umzäunt. Protestplakate mit Aufschriften wie „Überall ist Gitter und das ist bitter, überall ist Draht und das ist schad“ konnten den Kollektivspaß jedoch nicht trüben. Man wusch und bügelte und kochte unter den Augen der Mitmenschen. Klassenlos zeigte sich die Gesellschaft in Badehose – von den Campingplätzen in der DDR oder Bulgarien unterschied sich das nicht wesentlich. Kaum waren die Weitgereisten zurück, tropften in Partykellern die Kerzen von den italienischen Korbflaschen. Hausfrauen tauschten Spaghettirezepte aus.

Was in den fünfziger Jahren mit der Fahrt im VW-Käfer über die Alpenpässe begann, ist jetzt vollendet: Der deutsche Bürger ist zu Europas willigstem Konsumenten des Urlaubsglücks geworden. Im Urlaub gönnt er sich so etwas wie Leben, während er im Alltag verbissen sein Geld und seine Emotionen anspart. Deutschland ist das Land, das ihn mit Steuern und Arbeit und Praxisgebühren und Kürzungen quält, und daran möchte er in den schönsten Wochen des Jahres nicht erinnert werden. Deutschland ist nicht das Land des süßen Nichtstuns, der großen Auftritte seiner Kellner, des leichten Flirts. Vielleicht sind sich die Deutschen deshalb in nichts so einig wie darin, dass der Urlaub im Ausland am schönsten ist. Mit anderen Worten: Sie müssen flüchten, und das tun sie auch.

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