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Romantik: Friedrich Karl Wilhelm von Schlegel: Auszüge ausgewählter Schriften (1798-1804)

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II. Aus Grundzüge der Gotischen Baukunst (1803)

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[Über die Architektur in Cambray] Sonderbare Art zu bauen! Von dem obersten Geschoß des hohen Turms erhebt sich, den Wolken näher, eine ganz durchbrochene, ganz durchsichtige, soll ich sagen Pyramide oder Obeliske? Es läuft spitziger zu als jene, weniger spitz als dieser, von schlanken Röhren zusammengewunden, mit Knospen mannigfach verziert, bis alles sich oben in eine Spitze und Knospe endigt. So sind die eigentlich gotischen Türme meist alle gebaut, aber man trifft nur wenige vollendet. Ich habe eine große Vorliebe für die gotische Baukunst; wo ich irgendein Denkmal, irgendein Überbleibsel derselben fand, habe ich es mit wiederholtem Nachdenken betrachtet; denn es scheint mir, als hätte man ihren tiefen Sinn und die eigentliche Bedeutung derselben noch gar nicht verstanden. Diese Vereinigung der äußersten Zierlichkeit, einer unübersehlichen und unergründlichen Künstlichkeit der Ausarbeitung mit dem Großen, dem Unermeßlichen, dem Ungeheuren im Ganzen des Werks ist gewiß eine seltene und wahrhaft schöne Vereinigung entgegenstehender Fähigkeiten und Gesinnungen des nach dem Höchsten wie in das Kleinste gleich sehr hinstrebenden menschlichen Sinnes.

Keine Art soll die andere verdrängen in der Kunst. Gewiß würden mich die ältesten Denkmale der griechischen Kunst zu Athen, Girgenti und Pästum mit Ehrfurcht erfüllen, da schon die schwachen Umrisse und Zeichnungen ägyptischer, persischer und indischer Altertümer und Riesenwerke mich oft mit dem tiefsten Erstaunen und Bewunderung erfüllten. Aber was man so gewöhnlich den griechischen Geschmack nennt, ist doch meistens nur nach den Werken der späteren Zeit gebildet und nachgemacht, wo der Sinn des Großen schon verloren war, wie es auch in andern Künsten sobald geschah bei den Griechen, und statt dessen nur eine angenehme, aber bedeutungslose Symmetrie gesucht ward.

Die gotische, oder wie man es in der nächsten geschichtlichen Beziehung wohl auch nennen könnte, die deutsche Baukunst – weil sie ja allen deutschen Völkern gemein war, und deutsche Baumeister auch in Italien, wie in Frankreich und selbst in Spanien viele der wichtigsten sogenannten gotischen Gebäude aufführten – diese altdeutsche Baukunst verdient es wenigstens gewiß, daß man ihre noch unerforschten Tiefen zu ergründen strebe. Sie blühte zu ihrer Zeit ganz besonders in den Niederlanden, erreichte da, wie es scheint, die höchste Vollkommenheit. Kaum ist eine Stadt in Brabant, welche nicht ein oder das andere merkwürdige Denkmal derselben enthielte.

Übrigens dürfte die Benennung der gotischen Baukunst, sobald man diesen großen Nationalnamen nur in seinem vollständig umfassenden Sinne auffaßt, für die altchristliche und romantische Bauart des Mittelalters von Theoderich bis auf die moderne Zeit sehr angemessen und für immer beizubehalten sein; so wie auch die scheinbar willkürliche und wenig passende Benennung des Romantischen, welche uns jetzt die vorherrschende Phantasie in der Dichtkunst des Mittelalters zu charakteristisch zu bezeichnen dient, nicht füglich entbehrt und durch kein anderes historisch so bedeutsames Wort ersetzt werden kann.

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