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Klassizismus: Auszüge aus Johann Wolfgang von Goethes Gesprächen mit Johann Peter Eckermann (1824-1828)

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Mittwoch, den. 31 Januar 1827

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»Ich sehe immer mehr,« fuhr Goethe fort, »daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt. Einer macht es ein wenig besser als der andere und schwimmt ein wenig länger oben als der andere, das ist alles. Der Herr von Matthisson muß daher nicht denken, er wäre es, und ich muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit der poetischen Gabe keine so seltene Sache sei, und daß niemand eben besondere Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht.

Aber freilich, wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfnis von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen.«

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Montag, den. 20 Oktober 1828

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»Euer Exzellenz«, sagte ich, »haben vorhin in der Äußerung, daß die Griechen sich mit persönlicher Großheit an die Natur gewandt, ein gutes Wort gesprochen, und ich halte dafür, daß man sich von diesem Satz nicht tief genug durchdringen könne.«

»Ja, mein Guter,« sagte Goethe, »hierauf kommt alles an. Man muß etwas sein, um etwas zu machen. Dante erscheint uns groß, aber er hatte eine Kultur von Jahrhunderten hinter sich; das Haus Rothschild ist reich, aber es hat mehr als ein Menschenalter gekostet, um zu solchen Schätzen zu gelangen. Diese Dinge liegen alle tiefer, als man denkt. Unsere guten altdeutschelnden Künstler wissen davon nichts, sie wenden sich mit persönlicher Schwäche und künstlerischem Unvermögen zur Nachahmung der Natur und meinen, es wäre was. Sie stehen unter der Natur. Wer aber etwas Großes machen will, muß seine Bildung so gesteigert haben, daß er gleich den Griechen imstande sei, die geringere reale Natur zu der Höhe seines Geistes heranzuheben und dasjenige wirklich zu machen, was in natürlichen Erscheinungen, aus innerer Schwäche oder aus äußerem Hindernis, nur Intention geblieben ist.«

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Aus: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, herausgegeben von Regine Otto. Berlin: Aufbau-Verlag, 1982, S. 81, 94, 483, 179, 199, 257.
© Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1982

Wiedergabe auf dieser Webseite mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags.

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