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Friedrich Diesterweg: „Pädagogisches Krebsbüchlein” (1856)

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11. Wie man einem angehenden Lehrer (Seminaristen) die Natur austreibt

1. Man macht ihn mißtrauisch gegen die menschliche Natur überhaupt.
2. Man macht ihn mißtrauisch gegen die eigene Natur.
3. Man macht ihn ganz besonders mißtrauisch gegen die kindliche Natur.
4. Man lehrt ihn, daß das Heil von außen komme.
5. Man lehrt ihn, daß das Heil in einem bestimmt formulierten Bekenntnis enthalten sei.
6. Man veranlaßt ihn zur blinden Unterwerfung unter den Inhalt dieses Bekenntnisses.
7. Man überredet ihn, daß er sich durch Annahme desselben die Seligkeit erwerbe.
8. Man sagt ihm, daß er sich durch die Verbreitung desselben um die Menschheit („das Reich Gottes") verdient mache.
9. Man droht ihm mit zeitlichen und ewigen Strafen, wenn er davon abwiche.
10. Man belohnt und befördert ihn, wenn er sich in der Verbreitung des allein selig machenden Glaubens eifrig erweist.
11. Man hält ihn von der Kenntnis und Erkenntnis der Gesetze der äußeren Natur ab.
12. Man erhält ihn in Unwissenheit über die Natur und Gesetze des geistigen Lebens.
13. Man verdächtigt ihm die Werke und Schriften natürlich-idealer Menschen (der Klassiker der Nation), hält ihn von dem Lesen derselben ab, versenkt ihn dagegen in supranaturalistisch-positive Systeme und stellt ihn unter die Aufsicht konfessionell strenggläubiger Theologen.


12. Welche Momente man nur fortdauern zu lassen braucht, um die Fortdauer eines ungenügenden Lehrerstandes zu sichern

1. Das Herkommen aus den unteren Ständen.*
2. Mangelhafte Vorbildung.
3. Einseitige Ausbildung.
4. Allzu frühe Selbständigkeit.
5. Isolierte Lage.
6. Beaufsichtigung durch Männer, die nicht eigens für pädagogisches Wirken im Sinne der Menschenbildung herangezogen sind und welchen vermöge ihrer Vergangenheit und Art der Ausbildung nur ein sehr geringes, wenigstens einseitiges Interesse an der Wirksamkeit des Lehrers in der Schule beiwohnen kann.
7. Mangel an literarischen Bildungsmitteln.
8. Verheiratung mit Personen aus den unteren Ständen.
9. Die dadurch entstehende Verwandtschaft.
10. Vermehrte Sorge und Bedrängnis bei anwachsender Kinderzahl.
11. Bekümmernis um Weib und Kind bei dem Blick in die Zukunft im Fall des Todes.
12. Ökonomische Bedrängnis.




* Ich weiß sehr wohl und danke Gott, daß nicht vorzugsweise in goldnen Wiegen künftige Talente schlummern, sondern daß auch mitunter neben Webstuhl und Eisenhammer das Bettchen eines künftigen Luther oder Kant steht. Auch weiß ich, daß Ehrbarkeit und frommer Sinn noch in mancher niedrigen Hütte zu finden sind. Aber in der Regel entbehren die darin Herangewachsenen des feinen Taktes und des feinen Gefühls, das nicht angeboren, sondern anerzogen werden muß – der Eigenschaft, ohne welche eine tief erkennende und tief wirkende Erziehungstätigkeit nicht möglich ist. Diesen Mangel überwindet kein Seminar, und auch der Begriff zeigt sich in betreff seiner Bewältigung ohnmächtig. Eine mangelhafte Jugenderziehung dieser Art wird nur in den seltensten Fällen verwunden.

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