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Leopold von Ranke: Auszüge aus seinen Schriften (1824-1881)

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III. Auszug aus Rankes Vorlesungen zur Weltgeschichte (1854)

ERSTER VORTRAG VOM 25. SEPTEMBER 1854
Einleitung (Ausgangspunkt und Hauptbegriffe)

Zum Behufe der gegenwärtigen Vorträge ist es vor allem nötig, sich über zweierlei zu verständigen: 1. über den Ausgangspunkt, den man dabei zu nehmen haben wird, 2. über die Hauptbegriffe. Was den Ausgangspunkt für diese Vorträge betrifft, so würde es uns für den vorliegenden Zweck viel zu weit führen, wenn wir uns mit der Anschauung in ganz entfernte Zeiten, in ganz abgelegene Zustände versetzen wollten, welche zwar immer noch einen Einfluß auf die Gegenwart ausüben, aber nur einen indirekten. Wir werden also, um uns nicht ins rein Historische zu verlieren, von der römischen Zeit ausgehen, in welcher eine Kombination der verschiedensten Momente zu finden ist.

Hiernächst haben wir uns zu verständigen: 1. über den Begriff des Fortschrittes im allgemeinen; 2. über das, was man im Zusammenhang damit unter „leitenden Ideen" zu verstehen habe.

1. Wie der Begriff „Fortschritt" in der Geschichte aufzufassen sei

Wollte man mit manchen Philosophen annehmen, daß die ganze Menschheit sich von einem gegebenen Urzustande zu einem positiven Ziel fortentwickelte, so könnte man sich dieses auf zweierlei Weise vorstellen: entweder, daß ein allgemein leitender Wille die Entwickelung des Menschengeschlechtes von einem Punkt nach dem anderen förderte, oder daß in der Menschheit gleichsam ein Zug der geistigen Natur liege, welcher die Dinge mit Notwendigkeit nach einem bestimmten Ziel hintreibt. Ich möchte diese beiden Ansichten weder für philosophisch haltbar noch für historisch nachweisbar halten. Philosophisch kann man diesen Gesichtspunkt nicht für annehmbar erklären, weil er im ersten Fall die menschliche Freiheit geradezu aufhebt und die Menschen zu willenlosen Werkzeugen stempelt, und weil im anderen Falle die Menschen geradezu entweder Gott oder gar nichts sein müßten.

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