GHDI logo

Leopold von Ranke: Auszüge aus seinen Schriften (1824-1881)

Seite 4 von 9    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Um den wahren Historiker zu bilden, sind meines Bedünkens zwei Eigenschaften erforderlich: erstlich eine Theilnahme und Freude an dem Einzelnen an und für sich. Hat man eine wirkliche Neigung zu dem Geschlecht dieser vielgestaltigen Geschöpfe, aus welchem wir selber sind, zu diesem Wesen, das immer das alte und immer wieder ein anderes, das so gut und so bös, so edelgeistig und so thierisch, so gebildet und so roh, so sehr auf das Ewige gerichtet und dem Augenblick unterworfen, das so glücklich und so unselig, mit Wenigem befriedigt und voll Begier nach Allem: hat man Neigung zu der lebendigen Erscheinung des Menschen schlechthin, so wird man ohne allen Bezug auf den Fortgang der Dinge sich daran erfreuen, wie er allezeit zu leben gesucht; man wird mit Aufmerksamkeit die Tugenden, denen er nachgetrachtet, die Mängel, die an ihm zu spüren, sein Glück und Unglück, die Entwicklung seiner Natur unter so mannigfaltigen Bedingungen, seine Institutionen und Sitten, und um alles zu fassen, auch die Könige, unter denen die Geschlechter gelebt, die Reihenfolge der Begebenheiten, die Entwicklung der Hauptunternehmungen zu verfolgen suchen — alles ohne weiteren Zweck, bloß aus Freude an dem einzelnen Leben; so wie man sich der Blumen erfreut, ohne daran zu denken, in welche Klasse des Linnäus, oder zu welcher Ordnung und Sippe Oken's sie gehören; genug: ohne daran zu denken, wie das Ganze in dem Einzelnen erscheint.

Indessen ist es damit nicht gethan; es ist nothwendig, daß der Historiker sein Auge für das Allgemeine offen habe. Er wird es sich nicht vorher ausdenken, wie der Philosoph; sondern während der Betrachtung des Einzelnen wird sich ihm der Gang zeigen, den die Entwicklung der Welt im Allgemeinen genommen. Diese Entwicklung aber bezieht sich nicht auf allgemeine Begriffe, die in diesem oder jenem Zeitalter vorgeherrscht hätten, sondern auf ganz andere Dinge. Es ist auf der Erde kein Volk, das ohne Berührung mit anderen geblieben wäre. Dieses Verhältniß, welches von der ihm eigenthümlichen Natur abhängt, ist es, in welches es zur Weltgeschichte tritt, und welches in der allgemeinen Historie hervorgehoben werden muß. Nun sind einige Völker vor den anderen auf dem Erdboden mit Macht ausgerüstet gewesen; sie vor allen haben eine Wirkung auf die übrigen ausgeübt. Von diesen also werden vornehmlich die Umwandlungen herrühren, welche die Welt zum Guten oder zum Bösen erfahren hat. Nicht auf die Begriffe demnach, welche einigen geherrscht zu haben scheinen, sondern auf die Völker selbst, welche in der Historie thätig hervorgetreten sind, ist unser Augenmerk zu richten; auf den Einfluß, den sie auf einander, auf die Kämpfe, die sie mit einander gehabt; auf die Entwicklung, welche sie inmitten dieser friedlichen oder kriegerischen Beziehungen genommen. Denn unendlich falsch wäre es, in den Kämpfen historischer Mächte nur das Wirken brutaler Kräfte zu suchen und somit einzig das Vergehende der Erscheinung zu erfassen: kein Staat hat jemals bestanden ohne eine geistige Grundlage und einen geistigen Inhalt. In der Macht an sich erscheint ein geistiges Wesen, ein ursprünglicher Genius, der sein eigenes Leben hat, mehr oder minder eigenthümliche Bedingungen erfüllt und sich einen Wirkungskreis bildet. Das Geschäft der Historie ist die Wahrnehmung dieses Lebens, welches sich nicht durch Einen Gedanken, Ein Wort bezeichnen läßt: der in der Welt erscheinende Geist ist nicht so begriffsgemäßer Natur: alle Grenzen seines Daseins füllt er aus mit seiner Gegenwart; nichts ist zufällig in ihm, seine Erscheinung ist in allem begründet."

[ . . . ]



Quelle: Weltgeschichte. Von Leopold von Ranke. Erste bis dritte Auflage, herausgegeben von Alfred Dove und Georg Winter. Band IX, Teil II. Leipzig: Verlag von Duncker & Humblot, 1888, S. VII-XI.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite