GHDI logo

Hermann von Helmholtz: Auszüge aus einer Rede aus Anlass seiner Berufung als Prorektor an der Universität Heidelberg (1862)

Seite 7 von 9    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument     


Der wesentliche Unterschied dieser Wissenschaften beruht, wie mir scheint, darauf, dass es in ihnen verhältnissmässig leicht ist, die Einzelfälle der Beobachtung und Erfahrung zu allgemeinen Gesetzen von unbedingter Gültigkeit und ausserordentlich umfassendem Umfange zu vereinigen, während gerade dieses Geschäft in den zuerst besprochenen Wissenschaften unüberwindliche Schwierigkeiten darzubieten pflegt. Ja in der Mathematik sind die ersten allgemeinen Sätze, welche sie als Axiome an die Spitze stellt, von so geringer Zahl, von so unendlichem Umfange und solcher unmittelbaren Evidenz, dass man gar keinen Beweis für sie zu geben braucht. Man bedenke, dass die ganze reine Mathematik (Arithmetik) entwickelt ist aus den drei Axiomen:

„Wenn zwei Grössen einer dritten gleich sind, sind sie unter sich gleich."
„Gleiches zu Gleichem addirt giebt Gleiches."
„Ungleiches zu Gleichem addirt giebt Ungleiches."

Nicht zahlreicher sind die Axiome der Geometrie und der theoretischen Mechanik. Die genannten Wissenschaften entwickeln sich aus diesen wenigen Fordersätzen, indem man die Folgerungen aus denselben in immer verwickelteren Fällen zieht. Die Arithmetik beschränkt sich nicht darauf, die mannigfaltigsten Aggregate einer endlichen Zahl von Grössen zu addiren; sie lehrt in der höheren Analysis sogar unendlich viele Summanden zu addiren, deren Grösse nach den verschiedensten Gesetzen wächst oder abnimmt, also Aufgaben zu lösen, die auf directem Wege niemals zu Ende geführt werden könnten. Hier sehen wir die bewusste logische Thätigkeit unseres Geistes in ihrer reinsten und vollendetsten Form; wir können hier die ganze Mühe derselben kennen lernen, die grosse Vorsicht, mit der sie vorschreiten muss, die Genauigkeit, welche nöthig ist, um den Umfang der gewonnenen allgemeinen Sätze genau zu bestimmen, die Schwierigkeit, abstracte Begriffe zu bilden und zu verstehen; aber ebenso auch Vertrauen fassen lernen in die Sicherheit, Tragweite und Fruchtbarkeit solcher Gedankenarbeit.

Letztere tritt nun noch auffälliger in den angewandten mathematischen Wissenschaften hervor, namentlich in der mathematischen Physik, zu welcher auch die physische Astronomie zu rechnen ist. Nachdem Newton einmal aus der mechanischen Analyse der Planetenbewegungen erkannt hat, dass alle wägbare Materie in der Entfernung sich anzieht mit einer Kraft, die dem Quadrate des Abstandes umgekehrt proportional ist, so genügt dieses eine einfache Gesetz, um die Bewegungen der Planeten vollständig und mit grösster Genauigkeit zu berechnen in die fernsten Fernen der Vergangenheit und Zukunft hinaus, wenn nur Ort, Geschwindigkeit und Masse aller einzelnen Körper unseres Systems für irgend einen beliebigen Zeitpunkt gegeben sind; ja wir erkennen das Wirken derselben Kraft auch in den Bewegungen von Doppelsternen wieder, deren Entfernungen so weit sind, dass ihr Licht Jahre braucht, um von ihnen hierher zu gelangen, ja zum Theil so weit, dass die Versuche, sie zu messen, bisher gescheitert sind.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite